Vierte Dosis oder nicht? - Wozu Experten raten Von Gisela Gross, Walter Willems und Valentin Frimmer, dpa

Der Bundesgesundheitsminister rät dazu, doch einige Fachleute winken
ab. Brauchen gesunde Erwachsene derzeit einen zweiten Corona-Booster?
Manche Experten halten das sogar für kontraproduktiv. Umso wichtiger
ist es, die Argumente beider Seiten zu kennen.

Berlin (dpa) - Wer derzeit über eine zweite Booster-Dosis der
Corona-Impfung nachdenkt, kann schnell den Durchblick verlieren: Die
Ratschläge aus Politik, Behörden und von der Ständigen Impfkommission

(Stiko) unterscheiden sich. Ja was denn nun?

Wer empfiehlt was?

Die für Impfempfehlungen in Deutschland zuständige Stiko hält eine
zweite Auffrischimpfung bisher nur für Teile der Bevölkerung für
sinnvoll: etwa für Menschen ab 70 Jahren, Patienten mit unterdrücktem
Immunsystem, Pflegeheimbewohner und Personal medizinischer
Einrichtungen. Weitere Fachleute stärkten der Stiko in den
vergangenen Monaten bei dieser Frage den Rücken.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hingegen drängt immer
wieder auf mehr Viertimpfungen und brachte diese zuletzt für alle
gesunden Erwachsenen ins Spiel. Dann sind da noch zwei EU-Behörden:
ECDC und EMA riefen die Mitgliedsstaaten auf, zweite Booster schon ab
60 Jahren anzubieten. Stiko-Chef Thomas Mertens hatte daraufhin
angekündigt, das Gremium werde sich «relativ bald» zu einer möglich
en
Erweiterung der bestehenden Empfehlung äußern.

Wie begründet Lauterbach seinen Rat für unter 60-Jährige?

Wolle man den Sommer ohne Risiko einer Erkrankung genießen, würde er
die zweite Auffrischimpfung - «in Absprache natürlich mit dem
Hausarzt» - auch Jüngeren empfehlen, sagte Lauterbach kürzlich dem
«Spiegel». Mit der zweiten Booster-Impfung habe man «eine ganz andere

Sicherheit». Er argumentiert mit einem für ein paar Monate deutlich
verringertem Infektionsrisiko und deutlich geringerem
Long-Covid-Risiko.

Was sagen Kritiker dieser Forderung?

Der Virologe Mertens sagte der «Welt am Sonntag», er kenne keine
Daten, die den Ratschlag von Lauterbach rechtfertigten. «Ich halte es
für schlecht, medizinische Empfehlungen unter dem Motto «viel hilft
viel» auszusprechen». Die EU-Behörden ECDC und EMA hielten fest, dass

es derzeit keine klaren epidemiologischen Beweise gebe, die die Gabe
zweiter Booster bei immungesunden Menschen unter 60 Jahren stützen -
es sei denn, Patienten hätten gesundheitliche Schwachstellen.

Was sind die Argumente gegen Lauterbachs Rat?

Aus Sicht mehrerer Immunologen reichen für gesunde Erwachsene unter
60 die bisher von der Stiko empfohlenen drei Corona-Impfungen, um ein
stabiles immunologisches Gedächtnis aufzubauen. Es biete in der Regel
zumindest Schutz vor schwerer Erkrankung, Krankenhaus und Tod.
Absoluten, langanhaltenden Schutz vor Infektion bringe jedoch auch
Dosis vier für diese Gruppe nicht. Wer zum Beispiel vor dem Urlaub
keine Ansteckung mehr riskieren wolle, solle sich etwa durch Maske,
Abstand und Kontaktreduktion schützen, rät Carsten Watzl,
Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. Auch
Epidemiologe Hajo Zeeb geht von einem allenfalls geringen Vorteil der
zweiten Booster-Impfung für unter 60-Jährige aus, insbesondere wenn
Menschen auch noch zwischenzeitlich erkrankt waren.

Welche Rolle spielt der Impf-Zeitpunkt?

Der ist keineswegs nebensächlich. Schließlich wird für den Herbst
nicht nur wieder eine Zunahme des Infektionsgeschehens erwartet -
sondern auch Vakzine, die an Omikron angepasst sind. Es dürfte also
nochmal eine größere Impfkampagne anstehen. Allerdings ist momentan
ungewiss, mit welchen Mutationen das Virus bis dahin aufwartet und
für wen dann erneute Impfempfehlungen ausgesprochen werden.

Was man aber schon sagen kann: Impfabstände von mehreren Monaten
haben sich laut Stiko-Mitglied Christian Bogdan (Uniklinikum
Erlangen) als vorteilhaft erwiesen für die Stärke der ausgelösten
Immunantwort und für die daraus resultierende Schutzdauer. «Besonders
wichtig ist, dass eine Booster-Impfung - also die dritte Impfung - in
einem deutlichen Abstand zur zweiten Impfung stattfindet», im
Idealfall nicht früher als sechs Monate danach. Dies gelte auch für
einen möglichen zweiten Booster. Dieser Abstand gewährleiste eine
Steigerung der Immunantwort. Impfe man jedoch in eine laufende
Immunantwort hinein, sei der Effekt stark abgeschwächt.

Kann die vierte Dosis auch anderweitig kontraproduktiv sein?

Stiko-Mitglied Bogdan sagt, dass es zur Frage des möglichen Schadens
von zusätzlichen, klinisch nicht angezeigten Impfungen bisher für die
Covid-Impfstoffe keine umfassenden immunologischen Untersuchungen
gebe. Manche Experten verweisen zwar darauf, dass etwa von
wiederholten Impfungen etwa gegen Pocken oder Influenza keine
negativen Effekte bekannt seien - ebenso wenig bei den Einzelfällen,
in denen sich Menschen etliche Male gegen Covid-19 impfen ließen.

Jetzt bitte Klartext: Sollte ich mir den zweiten Booster holen?

Auch wenn es unbefriedigend ist: Zum jetzigen Zeitpunkt kann man
diese Frage nicht pauschal beantworten. Es hängt auch davon ab, wie
gut das Immunsystem des Einzelnen auf die ersten drei Impfungen
reagiert hat. Der Immunologe Andreas Thiel von der Berliner Charité
sagt, für «manche wenige» Menschen unter 60 könnte die vierte Impfu
ng
essenziell sein - allerdings könne man die nicht einfach erkennen.
Für die meisten in dieser Altersgruppe sei eine vierte Dosis dagegen
nicht wirklich essenziell. «Jeder muss diese Frage für sich selbst
beantworten.»

Allerdings kann der eigene Hausarzt bei der Entscheidung helfen.
Gesetzlich zuständig für Impfempfehlungen ist die Stiko, auch viele
Ärzte richten sich nach ihren Ratschlägen. Allerdings dürfen
Mediziner auch ohne Stiko-Empfehlung einen zweiten Booster spritzen.

Wie steht es denn derzeit insgesamt um den Impfstatus der Nation?

Abgesehen von der Frage nach mehr Viertimpfungen: Schon gemessen an
den bisherigen Stiko-Empfehlungen klaffen einige Impflücken. Das
Robert Koch-Institut gab in einem Bericht vom Juli an, dass noch etwa
1,3 Millionen Menschen ab 60 Jahren und rund 7,9 Millionen Erwachsene
unter 60 ihren Impfschutz mit mindestens einer Impfung auffrischen
müssten. Noch gar keine Impfung erhalten hätten rund 1,9 Millionen
Menschen ab 60 und rund 7,3 Millionen Erwachsene unter 60 Jahre.

Der Hamburger Intensivmediziner Stefan Kluge berichtete auf Twitter,
dass leider immer wieder Risiko-Patienten mit unvollständiger
Corona-Impfserie aufgenommen würden: Jüngst etwa eine mit Sars-CoV-2
infizierte 90-Jährige, die nur einmal geimpft worden sei. «Diese
Impflücken sollten jetzt geschlossen werden», appellierte er.