Zum Essen gab es Schläge - Missbrauch und Gewalt in Kinderheim Von Oliver Schmale, dpa
Sie mussten stundenlang essen und wurden grün und blau geschlagen:
Frühere Heimkinder erzählen von ihrem Aufenthalt im katholischen
Josefsheim in Ludwigsburg. Eine Studie zeigt das ganze Ausmaß der
Misshandlung.
Ludwigsburg (dpa/lsw) - Wenn sich der 61-Jährige an seine Zeit im
früheren katholischen Kinderheim St. Josef in Ludwigsburg erinnert,
sagt er mit ruhiger Stimme: «Das war das Brutalste.» Anfang der
1970er Jahre war er dort mit seiner Schwester untergebracht. «Ich
wurde regelmäßig massiv geschlagen», berichtet der Mann, der seinen
Namen nicht nennen will. Er gehört zu den zahlreichen ehemaligen
Bewohnern, die gedemütigt, vernachlässigt oder sogar sexuell
missbraucht worden sind. Das Institut für Praxisforschung und
Projektberatung (IBB) hat sie befragt und den Skandal in einer Studie
aufgearbeitet.
Das Kinderheim wurde einst von Nonnen betrieben. Bei den Nonnen seien
immer zuerst die Kirche und Gott im Vordergrund gestanden, «dann
kamen wir», sagt eine heute 53 Jahre alte betroffene Frau. Von 1960
bis 1990 habe es 30 Jahre institutionellen Machtmissbrauch gegeben,
wie der Psychologe Florian Straus vom IBB bei der Vorstellung des
Abschlussberichts am Mittwoch mitteilte. Es seien alle Formen von
Gewalt dokumentiert, mit einer besonderen Variante extremer
Lieblosigkeit.
Über die genaue Anzahl der Opfer konnten keine Angaben gemacht
werden. Seit 1947 sollen etwa 1100 Kinder in der Einrichtung
untergebracht gewesen sein. IBB-Soziologin Elisabeth Helming sagte,
dass auch ein früherer katholischer Gemeindepriester mindestens drei
junge Mädchen in den 1960er und 1970er Jahren sexuell missbraucht
habe. Eine weltliche Erzieherin in dem Heim sei Komplizin des
Priesters gewesen. «Sie führte ihm die Mädchen zu.» Später sei de
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Geistliche nach Guatemala versetzt worden. Der Mann ist inzwischen
gestorben. Die Soziologin wies darauf hin, dass die Dunkelziffer bei
dem Thema Missbrauch sicherlich höher sei.
Andere frühere Bewohner berichteten den Studienautoren, dass sie zum
Essen gezwungen worden seien. Man habe stundenlang sitzen müssen.
Andere erinnerten sich, dass sich die ganze Gruppe habe anstellen
müssen, um nacheinander Prügel mit einem Handfeger zu erhalten.
«Ohrfeigen waren an der Tagesordnung», sagte Helming. Insgesamt
wurden unter anderem 27 Interviews mit betroffenen ehemaligen Kindern
- darunter 16 Frauen und elf Männer - geführt.
Das Josefsheim wurde mit einem Kloster 1930 erbaut und von den
Schwestern des Karmelitinnen-Ordens geführt. Im Zweiten Weltkrieg
diente die Einrichtung als Lazarett, danach wieder als Kinderheim.
Mehrere dutzend Kinder waren dort in vier Gruppen untergebracht. 1992
wurde es geschlossen. Hintergrund war die Überalterung der
Schwesternschaft. Außerdem gab es immer weniger Ordensfrauen.
Frühere Bewohner kritisierten das Verhalten des katholischen Ordens
schwer. Er habe die Missbrauchsvorwürfe zunächst als Hirngespinste
abgetan. Das Ausmaß der Misshandlung habe sie überrascht, sagte
Schwester Edith Riedle, die Hausoberin der Karmelitinnen in
Ludwigsburg. Die Vorgänge seien beschämend. «Wir als
Ordensgemeinschaft haben Schuld auf uns geladen.»
Bis 1977 gab es nach Angaben der beiden Studienautoren gleichfalls
eine Säuglings- und Kleinkindergruppe. Hier seien Kinder nachts in
den Betten festgebunden worden, teilte Helming weiter mit.
Möglicherweise seien sie auch mit Contergan ruhiggestellt worden.
«Das war im Grunde eine Verwahrstation.» Es habe gravierende
Vernachlässigungen gegeben. In der Gruppe waren bis zu 13 Säuglinge
und Kleinkinder untergebracht. Zur damaligen Zeit hatte es noch keine
Notaufnahmestationen für Säuglinge gegeben, die heute Standard sind.
Die Studie befasste sich auch mit der damaligen Rolle des
Jugendamtes. Straus sagte: «Wir sehen eine Mitschuld der öffentlichen
Jugendhilfe.» Sie habe versagt.
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