Mehr schwere Nebenwirkungen? Ärzte melden auch leichte Impfreaktionen Von Veronika Völlinger, dpa

Neue Daten der Kassenärzte sollen angeblich eine viel höhere Zahl an
Nebenwirkungen nach einer Corona-Impfung zeigen als bisher erfasst.
Doch die Daten werden falsch interpretiert.

Berlin (dpa) - Was ist erwartbare Impfreaktion, was schwerwiegende
Nebenwirkung? In dieser Frage verheddern sich in der Debatte über
Corona-Impfstoffe immer wieder einige Akteure. Nebenwirkungen träten
viel häufiger auf als bislang bekannt, wird mitunter behauptet. In
einem aktuellen Antrag schreibt etwa die AfD-Bundestagsfraktion mit
Verweis auf neue Daten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV)
von rund 2,5 Millionen Patienten mit Impfnebenwirkungen, die 2021 von
ihren Vertragsärzten behandelt worden seien. Doch die KBV ordnet die
Zahlen ein - die Daten unterscheiden demnach beispielsweise nicht
zwischen üblichen Impfreaktionen und meldepflichtigen Nebenwirkungen.

Behauptung: Zahlen der KBV zeigen, dass die Nebenwirkungen der
Corona-Impfung viel höher liegen als gedacht. Fast 2,5 Millionen
Patienten mussten deswegen 2021 in ärztliche Behandlung.

Bewertung: Irreführend.

Fakten: Die Wirksamkeit der Covid-Impfstoffe ist wissenschaftlich
erwiesen. Ebenso ist bekannt: Häufig gibt es vorübergehende
Reaktionen wie den «Impfarm» oder Kopfschmerzen, äußerst selten
hingegen schwerer wiegende Nebenwirkungen.

Die neuesten Daten zu Impfnebenwirkungen hatte die Kassenärztliche
Bundesvereinigung auf Anfrage der AfD-Fraktion im Bundestag
zusammengestellt. Das bestätigte die KBV der Deutschen Presse-Agentur
(dpa). In der Analyse, die der dpa vorliegt, ist die Rede von knapp
2,5 Millionen Patienten, die 2021 nach einer Impfung bei Kassenärzten
vorstellig wurden. Zu deren Symptomen gehörten sowohl «übliche und
damit nicht meldepflichtige Impfreaktionen als auch meldepflichtige
Impfnebenwirkungen», wie die KBV schreibt.

Einen aus diesen Daten erstellten AfD-Bundestagsantrag, in dem zur
Aufklärung von Impfnebenwirkungen aufgerufen wird, überwies das
Plenum am Mittwoch an den Gesundheitsausschuss. Darin heißt es,
Ausmaß und Risiko von Impfnebenwirkungen seien in der Vergangenheit
«marginalisiert und bagatellisiert» worden. Der gesundheitspolitische
Sprecher der AfD-Fraktion, Martin Sichert, nannte die KBV-Zahlen
bereits Ende Juni «beängstigend».

Darauf reagierte der Dachverband der 17 Kassenärztlichen
Vereinigungen in Deutschland empört: Der Vorstand «distanziert sich
aufs Schärfste von den Aussagen und Interpretationen» Sicherts,
teilte die KBV mit. Die Zahl von rund 2,5 Millionen Patienten mit
Impfnebenwirkungen sei «keineswegs unerwartet und dramatisch».

Unter Impfnebenwirkungen versteht die KBV nämlich auch typische
harmlose Impfreaktionen, die ein bis drei Tage anhalten: etwa
Hautausschlag, Rötungen und Schmerzen an der Einstichstelle, Fieber
oder Müdigkeit. «Sie bilden den mit Abstand größten Anteil der
registrierten Unverträglichkeiten und Komplikationen.» Mitnichten
wurden also nur schwere Nebenwirkungen gemeldet.

Die KBV wertete Abrechnungsdaten anhand von vier Diagnose-Schlüsseln
aus, von denen nur einer spezifisch auf Corona-Impfungen angewandt
wird. Die anderen drei können genauso bei Impfreaktionen nach einer
Tetanus- oder Hepatitis-Spritze vergeben werden.

Ärzte und Ärztinnen müssen diese sogenannten ICD-Codes auf ihren
Abrechnungen angeben. Wer sich zum Beispiel nach einer Impfung zu
schlapp fühlt, um arbeiten zu gehen, konsultiert den Arzt für eine
Krankschreibung. Dazu müssen die Patienten aber nicht unbedingt
behandelt werden, wie die KBV mitteilt. Ein ICD-Schlüssel wird aber
dennoch vergeben.

Solch ein Code kann also je nachdem eine übliche und ungefährliche
Impfreaktion beschreiben oder eine über das übliche Maß hinausgehende

Nebenwirkung, die zusätzlich dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI) anzeigt
werden muss. Das PEI bewertet Nutzen und Risiko von Impfstoffen. Dem
Institut wurden bis Ende 2021 insgesamt 244 576 Verdachtsfälle einer
Nebenwirkung nach einer Corona-Impfung gemeldet. «In 29 786
Verdachtsfällen wurden schwerwiegende unerwünschte Reaktionen
gemeldet», so das PEI.

«Der Unterschied zwischen den von Ärztinnen und Ärzten dokumentierten

im Vergleich zu den dem PEI gemeldeten Impfreaktionen ist daher
nachvollziehbar und war zu erwarten», heißt es von der KBV. Die Zahl
der gesamten Corona-Impfungen in Deutschland lag 2021 laut Robert
Koch-Institut bei rund 150 Millionen.

Die knapp 2,5 Millionen von der KBV dokumentierten Patienten mit
Nebenwirkungen müssen zudem nicht ausschließlich wegen Symptomen nach
einer Impfung in die Praxen gekommen sein: «Patientinnen und
Patienten werden auch wegen anderer Beschwerden wie z. B. einer
chronischen Grunderkrankung zum Arzt gegangen sein und dabei die
Impfnebenwirkung erwähnt haben, was der Arzt wiederum dann codiert
hat», so die KBV.

Ebenso hinkt der Vergleich der Zahl gemeldeter Nebenwirkungen der
Covid-Impfung bei der KBV mit der von früheren Impfungen, worauf auch
die KBV hinweist: Expertinnen und Experten haben immer wieder betont,
dass die hohe öffentliche Aufmerksamkeit während der Pandemie auch zu
mehr Meldungen möglicher Impfreaktionen und -nebenwirkungen führt.

In der Vergangenheit gab es mehrfach Versuche, eine angeblich
unerkannte hohe Anzahl von Corona-Impfnebenwirkungen nachzuweisen.
Bisher gibt es dafür aber keinen Beleg. Vermeintliche Analysen wiesen
arge Mängel auf: Die Studie eines Stiftungsprofessors der Berliner
Charité stellte sich als offene Internet-Umfrage heraus, deren
Datenbasis selbst die Charité nicht für geeignet hielt. Eine
Auswertung der Krankenkasse BKK Provita unterschied nicht zwischen
vorübergehenden Impfreaktionen und anhaltenden Nebenwirkungen.