Streiks gehen weiter - Uniklinik-Chef Werner: Bedrohliche Situationen Von Ulli Brünger, dpa

Der Chef der Uni-Klinik Essen hofft auf ein baldiges Ende der schon
zehn Wochen dauernden Streiks an NRW-Unikliniken. Mehr als 10 000
Operationen sind verschoben worden. Jochen A. Werner hat Verständnis
für die Not der Beschäftigten, aber er warnt auch vor den Folgen.

Essen (dpa/lnw) - Im harten Ringen um bessere Arbeitsbedingungen
gehen die Streiks an sechs nordrhein-westfälischen
Universitätskliniken mit unverminderter Härte weiter. Auch nach zehn
Wochen ist ein Ende noch immer nicht in Sicht. Der Ärztliche Direktor
der Universitätsklinik Essen, Professor Jochen A. Werner, sieht die
gesundheitliche Versorgung «massiv» beeinträchtigt. Der durch
coronabedingte Ausfälle zusätzlich verschärfte Personalmangel gepaart

mit den andauernden Streikmaßnahmen führe mitunter auch zu «akut
bedrohliche Situationen», sagte Werner der Deutschen Presse-Agentur.

Die Gewerkschaft Verdi führt mit den Beschäftigten der Unikliniken in
Aachen, Bonn, Köln, Düsseldorf, Essen und Münster seit vielen Wochen

einen Arbeitskampf, um spürbare Verbesserungen insbesondere in der
chronisch unterbesetzten Pflege, aber auch in anderen Klinikbereichen
zu erreichen. In einigen Teilen Deutschlands gibt es längst einen
sogenannten «Tarifvertrag Entlastung» (TV-E), der genaue
Personalbemessungen regelt.

Neben den direkt mit der Pflege am Bett Beschäftigten geht es auch um
die personelle Ausstattung in Notaufnahmen, Ambulanzen, OP-Sälen, im
Krankentransport oder in der Anästhesie. Verdi argumentiert mit den
Versorgungsketten, die gewährleistet sein müssten. Schließlich nütz
e
es nicht, wenn in der direkten Pflege ausreichend Personal vorhanden
sei, das System aber nicht funktioniere, weil andere Bereiche
chronisch unterbesetzt seien.

Etliche Male machte Verdi-NRW-Chefin Gabriele Schmidt deutlich, dass
man bereit sei Tag und Nacht zu verhandeln, um die Streiks endlich
beenden zu können. Auch die Politik nahm sie in die Pflicht, die
Finanzierung der Bereiche zu sichern, die nicht von den Krankenkassen
übernommen werde.

Diese Zusagen der neuen schwarz-grünen Landesregierung mit
Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) gibt es inzwischen,
dennoch hakt es weiter, vor allem an einem zentralen Punkt. Die
Klinikvorstände boten eine pauschale Regelung mit bis zu sieben
Entlastungstagen pro Jahr an. Die Beschäftigten aber wollen, dass in
jedem Klinikbereich, jeder Station ein genaues Verhältnis von
Personal und Patientinnen/Patienten festgelegt wird. Sollte dies dann
einmal unterschritten werden, müssten die Beschäftigten einen
entsprechenden Entlastungsausgleich erhalten. «Der Streik kann sofort
beendet werden, sobald die Eckpunkte für einen Tarifvertrag stehen,
der wirklich Entlastung bringt», betonte Schmidt zuletzt.

«Ich hätte mir gewünscht, gerade vor dem Hintergrund einer
prinzipiellen Einigkeit in vielen Sachfragen, dass Verdi während der
laufenden Gespräche die Intensität des Streiks zurückgefahren hätte
»,
sagte Werner. «Dies ist nicht erfolgt. Und so waren und sind die
Leidtragenden neben den zusätzlich belasteten Beschäftigten vor allem
die Patienten, auch wenn es durch Notdienstvereinbarungen eine
Basisversorgung der Notfälle gegeben hat.»

Im Grunde wollen alle dasselbe: kranke Menschen bestmöglich
versorgen. Und der 63-jährige Mediziner kann die Forderungen nach
Entlastung «nicht nur verstehen», sondern er «unterstütze sie sogar

prinzipiell». Auch die Klinikchefs «sehen seit langem eine steigende
Arbeitsbelastung insbesondere im pflegerischen Bereich auf den
Stationen», so Werner. «Man muss allerdings auch sagen, dass eine
steigende Arbeitsbelastung nicht das Privileg der Medizin ist,
sondern in der gesamten Industrie und den Dienstleistungsbranchen
eine seit vielen Jahren ebenso zu beobachtende Entwicklung. Die
Situation an den Flughäfen oder beim Handwerk spiegelt dies ja
derzeit besonders akut wieder.»

Allein am Uniklinikum Essen mussten rund 2600 mehr oder minder
dringliche Operationen seit Streikbeginn Anfang Mai verschoben
werden. An allen sechs Unikliniken sind es nach dpa-Informationen
schon zwischen 10 000 und 12 000 Operationen. Werner befürchtet: «Es
wird nach Ende des Streiks lange dauern, diesen Berg abzuarbeiten.»
Jeder Streiktag habe erhebliche Auswirkungen.

Bedenklich ist, dass laut Werner weder ein Entlastungstarifvertrag
noch die Streiks die «grundsätzlichen strukturellen Probleme des
Fachkräftemangels in der Pflege» lösen werden. «Um die Forderungen

erfüllen zu können, werden alle Unikliniken massiv Personal aufbauen
müssen, dass auf dem Arbeitsmarkt nicht verfügbar ist.» Also müssen

die neuen Beschäftigten «aus bestehenden Arbeitsverhältnissen mit
anderen Kliniken und Gesundheitseinrichtungen abgeworben werden». Die
Konsequenz werde laut Werner ein «Verdrängungswettbewerb» sein, «an

dessen Ende die Pflegekräfte nicht mehr an den Unikliniken fehlen,
sondern in den kleineren Krankenhäusern, in der ambulanten Pflege
oder der Altenpflege». Unerlässlich sei es daher, perspektivisch die
Zahl der Krankenhäuser in NRW zu reduzieren.

Unterdessen gingen die Streiks auch am Donnerstag weiter. Schauplatz
der landesweiten Kundgebung war Essen. Mehrere hundert Beschäftigte
wollten sich am Ausstand beteiligen, um in den zähen Verhandlungen
den Druck auf die Arbeitgeber nochmals zu erhöhen. Wann es zu einer
Einigung kommen werde, dazu wagt auch HNO-Spezialist Werner keine
Prognose: «Von ganz wenigen Tagen bis zu vielen Wochen.»