Oberstes US-Gericht kippt liberales Abtreibungsrecht Von Julia Naue und Christiane Jacke, dpa

Vor einem halben Jahrhundert feierten Frauen überall in den USA ein
Abtreibungsurteil des Obersten Gerichtshofs. Bis heute galt die
Entscheidung als Meilenstein, weil sie Abtreibungen bis zur
Lebensfähigkeit des Fötus erlaubte. Nun ist sie Geschichte.

Washington (dpa) - Der Oberste Gerichtshof der USA hat nach fast
einem halben Jahrhundert das liberale Abtreibungsrecht in den
Vereinigten Staaten gekippt. Der mehrheitlich konservativ besetzte
Supreme Court in Washington machte mit seiner Entscheidung am Freitag
den Weg für strengere Abtreibungsgesetze frei - bis hin zu kompletten
Verboten in einzelnen Bundesstaaten. Damit ist das bisherige Recht
auf Abtreibung aus dem Jahr 1973 in den USA Geschichte. Die
Entscheidung gilt als politisches Erdbeben. Dagegen werden massive
Proteste erwartet.

«Die Verfassung gewährt kein Recht auf Abtreibung», heißt es in der

Urteilsbegründung. Die Entscheidung ist keine Überraschung: Anfang
Mai hatte das Magazin «Politico» einen Entwurf dazu veröffentlicht.
Daraus ging bereits hervor, dass das Gericht so entscheiden will.
Daraufhin gab es einen Aufschrei von Frauenrechtsorganisationen,
Kliniken und Liberalen. Das Urteil ist nun so drastisch wie erwartet.
In etwa der Hälfte der Bundesstaaten dürfte es nun zu weitgehenden
Einschränkungen kommen.

Es gibt in den USA kein landesweites Gesetz, das
Schwangerschaftsabbrüche erlaubt oder verbietet. Abtreibungen sind
aber mindestens bis zur Lebensfähigkeit des Fötus erlaubt - heute
etwa bis zur 24. Woche. Dies stellte bisher ein Urteil des Obersten
US-Gerichts von 1973 sicher, das als Roe v. Wade bekannt ist. Ein
weiteres Urteil von 1992, Planned Parenthood v. Casey, bestärkte die
Rechtsprechung und passte sie etwas an. Der Supreme Court hat diese
Entscheidungen nun gekippt.

Die heutige konservative Mehrheit im obersten US-Gericht hielt sich
mit Schelte an den Vorgängern nicht zurück. «Roe war vom Tag seiner
Entscheidung an ungeheuer falsch und auf Kollisionskurs mit der
Verfassung. Casey hat seine Fehler fortgesetzt», heißt es in der
Begründung. Die «Befugnis zur Regelung» des Abtreibungsrecht werden
nun an das Volk und seine gewählten Vertreter zurückgegeben. In
Deutschland bleibt seit 1995 ein Schwangerschaftsabbruch in den
ersten zwölf Wochen straffrei, wenn die Frau sich zuvor beraten
lässt.

In den USA ist das Abtreibungsrecht immer wieder Thema heftiger
Auseinandersetzungen. Gegner versuchen seit Jahrzehnten, die
liberalen Regeln zu kippen. Unter dem vorigen Präsidenten Donald
Trump rückte der Supreme Court deutlich nach rechts. Der Republikaner
ernannte während seiner Amtszeit die Richter Neil Gorsuch, Brett
Kavanaugh und Amy Coney Barrett. Sie alle stimmten dafür, das Recht
auf Abtreibung zu kippen - gemeinsam mit den konservativen Richtern
Clarence Thomas und Samuel Alito. Der oberste Richter John Roberts
machte deutlich, dass er das Recht auf Abtreibung nicht in diesem nun
drastischen Ausmaß beschränken wollte.

Die Richterinnen Sonia Sotomayor und Elena Kagan sowie Richter
Stephen Breyer stimmten gegen die Entscheidung. Sie gelten als
liberal. «Nach dem heutigen Tag werden junge Frauen mit weniger
Rechten aufwachsen, als ihre Mütter und Großmütter hatten» hieß e
s in
ihrer abweichenden Meinung. Die Mehrheit habe entschieden ohne zu
bedenken, was es bedeute, Frauen das Recht auf Abtreibung zu nehmen.

Doch warum beschäftigte sich das Gericht überhaupt mit dem Thema?
Hintergrund ist ein Abtreibungsgesetz aus dem Bundesstaat
Mississippi, das fast alle Abtreibungen nach der 15.
Schwangerschaftswoche verbietet - ein Gesetz, das nach der bisherigen
Rechtssprechung eigentlich verfassungswidrig war. Der konservativ
regierte Bundesstaat hatte das Oberste Gericht angerufen, den Fall zu
überprüfen. Dass sich das Gericht überhaupt damit beschäftigte, war

bereits als Zeichen gewertet worden, dass Roe v. Wade kippen könnte.

Die Entscheidung sieht nun vor, es den Bundesstaaten zu überlassen,
wie sie ihr Abtreibungsrecht regeln. Dies gilt als besonders
drastisch. Einige Staaten haben bereits Gesetze vorbereitet, die
sofort in Kraft treten können, wenn die bisherige Rechtssprechung
kippt - sogenannte Trigger Laws. Es sind vor allem die
erzkonservativen Staaten im Süden und mittleren Westen, die
Abtreibung ganz oder fast komplett verbieten wollen.

Liberale Staaten wie New York oder Kalifornien haben hingegen
Gesetze, die das Recht auf Abtreibung ausdrücklich schützen. In
diesen Staaten dürfte sich vorerst nichts ändern. Für Schwangere
bedeutet die Entscheidung, Hunderte oder gar Tausende Kilometer
reisen zu müssen, um eine Abtreibungsklinik zu erreichen. Viele
können sich das nicht leisten. Befürchtet wird, dass wieder vermehrt
Frauen versuchen, selbst eine Abtreibung vorzunehmen.

Die Demokraten von US-Präsident Joe Biden hatten Anfang Mai versucht,
dass Recht auf Abtreibung per Gesetz zu verankern - scheiterten damit
aber im Senat. Die Abstimmung war in erster Linie symbolischer Natur.
Mit ihrer knappen Mehrheit können die Demokraten ein solches Gesetz
nicht ohne weiteres durchbringen. Hinzu kam, dass nicht einmal in den
eigenen Reihen Geschlossenheit herrschte und der demokratische
Senator Joe Manchin mit den Republikanern stimmte.

Die Demokraten hoffen, mit dem Thema für die US-Wahlen im November
mobilisieren zu können. Sie argumentieren, mit einer deutlichen
Mehrheit ein Gesetz verabschieden zu können, dass das Recht auf
Abtreibung gesetzlich festschreibt. Umfragen zufolge dürften sie aber
ihre Mehrheit verlieren. Das Weiße Haus hatte bereits vor der
Entscheidung angekündigt, sich nun erneut an den Kongress zu wenden.
Auch dieser Versuch dürfte wegen fehlender Mehrheiten scheitern.

Nur eine Minderheit der US-Bevölkerung war Umfragen zufolge dafür,
dass Roe v. Wade gekippt wird. Dem Institut Gallup zufolge
unterstützt seit den 70er Jahren eine Mehrheit das Recht auf
Abtreibung - mit Einschränkungen oder unter allen Umständen.

Einige Bundesstaaten wie Texas hatten es zuletzt schon über einen
zivilrechtlichen Umweg ausgehebelt. Das dortige Gesetz verbietet alle
Abtreibungen, sobald der Herzschlag des Fötus festgestellt worden
ist. Das kann schon in der sechsten Schwangerschaftswoche der Fall
sein. Außergewöhnlich an dem Gesetz ist, dass es Privatpersonen
ermöglicht, zivilrechtlich gegen alle vorzugehen, die bei einer
Abtreibung helfen. Dieser rechtliche Kniff macht es auch besonders
schwer, das Gesetz vor Gericht anzufechten.