Ärzte mahnen: Weichen für Corona-Regeln im Herbst jetzt stellen

Bei hochsommerlichen Temperaturen scheinen der Herbst und eine neue
Corona-Welle noch weit weg. Doch Mediziner warnen: Um einen
Gesundheitsnotstand in den kalten Monaten zu vermeiden, müsse jetzt
dringend gehandelt werden.

Berlin (dpa) - Führende Ärztevertreter haben die Bundesregierung zu
deutlich mehr Tempo bei der Festlegung von Corona-Schutzmaßnahmen für
den Herbst aufgefordert. Angesichts wieder steigender Inzidenzen und
einer für den Herbst erwarteten neuen Welle müsse die Politik rasch
handeln, sagte der Vorsitzende des Weltärztebundes, Frank Ulrich
Montgomery. Der Ärzteverband Marburger Bund forderte, noch vor der
Sommerpause die Weichen für eine Neufassung der Corona-Bestimmungen
im Infektionsschutzgesetz zu stellen. Nach dem Willen der FDP soll
das Gesetz im Sommer beraten, aber erst nach der Bundestagspause
angepasst werden, die Anfang September endet. Diesen Zeitplan nannte
am Freitag auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD).

«Es wäre verantwortungslos, wenn wir Ende September in eine
Regelungslücke schlitterten», sagte die Vorsitzende des Marburger
Bundes, Susanne Johna, der «Neuen Osnabrücker Zeitung» (NOZ). Es gebe

eine reale Gefahr gleichzeitiger Wellen von Corona und Influenza zum
Ende des Sommers oder am Herbstanfang. Um einem Gesundheitsnotstand
vorzubeugen, müsse ein neues Infektionsschutzgesetz harte Maßnahmen
ermöglichen. «Wir halten nichts von Schul- und Kitaschließungen»,
sagte Johna. «Alle anderen Maßnahmen, bis hin zu
Kontaktbeschränkungen und einer etwaigen Schließung von Bars und
Clubs, sind Instrumente, die in den Kasten gehören.» Montgomery
warnte in der «Passauer Neuen Presse» (Samstag): «Es darf nicht erst

wieder eine lange zermürbende parteipolitische Debatte darüber geben
bis zu dem Zeitpunkt, an dem das Kind in den Brunnen gefallen ist.»

Heftige Kritik an der aktuellen Corona-Politik kam auch vom
Bundesverband der Deutschen-Industrie (BDI). Eine neue Corona-Welle
werde immer wahrscheinlicher, zudem werde man Virus-Mutationen haben,
sagte BDI-Chef Siegfried Russwurm den Zeitungen der Funke
Mediengruppe. «Die Politik läuft sehenden Auges in diese Situation
und tritt seit zwei Jahren auf der Stelle. Das macht mich
fassungslos.»

Die FDP will zunächst das Gutachten eines Sachverständigenrates zu
den bisherigen Corona-Schutzmaßnahmen abwarten, das am 30. Juni
vorgelegt werden soll. «Es wäre Quatsch, wenn die Politik jetzt
Schutzmaßnahmen beschließt, bevor die überparteilichen
Experten-Empfehlungen vorliegen», sagte FDP-Fraktionschef Christian
Dürr dem «Tagesspiegel» (Sonntag). Der Vorsitzende des
Expertengremiums, Stefan Huster, warnte allerdings im «Spiegel» vor
zu hohen Erwartungen an den Abschlussbericht der Kommission. Man
werde keine Empfehlungen an die Politik abgeben.

Einer von mehreren möglichen Vorschlägen zur Anpassung des
Infektionsschutzgesetzes innerhalb der Ampel-Koalition ist laut «Welt
am Sonntag» eine sogenannte «O-bis-O»-Regelung, laut der die
Maskenpflicht in Innenräumen von Oktober bis Ostern wieder eingeführt
werden könnte.

Genau darüber zeichnet sich bereits Streit ab. Bundesjustizminister
Marco Buschmann hält den Nutzen einer Maskenpflicht offensichtlich
noch nicht für wissenschaftlich erwiesen. «Will der Staat Masken
vorschreiben, etwa in Innenräumen, muss das evidenzbasiert und
verhältnismäßig sein. Ob das der Fall ist, besprechen wir, wenn alle

Gutachten vorliegen», sagte der FDP-Politiker der «Rheinischen Post»

(Samstag). «Evidenzbasiert», wie Buschmann sich ausdrückte, bedeutet

auf Grundlage zusammengetragener und bewerteter wissenschaftlicher
Erkenntnisse. Montgomery widersprach Buschmann vehement: Die
«wissenschaftliche Evidenz zum Sinn von Maskenpflicht und Impfen» sei
«erdrückend», erklärte in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe
(Samstag).

Das Robert Koch-Institut (RKI) gab die bundesweite
Sieben-Tage-Inzidenz am Samstagmorgen mit 445,1 an. Am Vortag war der
Wert der Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner und Woche mit 427,8
(Vorwoche: 348,9; Vormonat: 407,4) auffällig niedrig gewesen, weil an
Fronleichnam (Donnerstag) einige Bundesländer gar keine Zahlen ans
RKI übermittelt hatten. Experten gehen seit einiger Zeit von einer
hohen Zahl nicht vom RKI erfasster Fälle aus - vor allem weil bei
weitem nicht alle Infizierte einen PCR-Test machen lassen. Nur
positive PCR-Tests zählen in der Statistik. Zudem können
Nachmeldungen oder Übermittlungsprobleme zu einer Verzerrung
einzelner Tageswerte führen.