Viren gegen Bakterien: Phagentherapie für Patienten in Deutschland Von Annett Stein, dpa

Unser Körper ist Schauplatz ewigen Ringens von Billionen Bakterien
und ihren Gegenspielern, den Bakteriophagen. Diese Viren wollen sich
Mediziner als dringend gesuchte Antibiotika-Ergänzung zunutze machen.
In Deutschland starten demnächst klinische Studien an Patienten.

Berlin (dpa) - Manchem mag es riskant erscheinen, Viren gezielt in
Wunden zu reiben, einzuatmen, zu schlucken oder gar in die Blutbahn
zu spritzen. Doch bei der sogenannten Phagentherapie kommen
tatsächlich bakterienfressende, für den Menschen ungefährliche Vire
n
zum Einsatz. Mit der steigenden Zahl von Antibiotikaresistenzen wird
dieser lange kaum noch verwendeten Therapieform wieder mehr
Aufmerksamkeit zuteil. Aber ist sie die Lösung für die große Krise
der Medizin? Zwei große deutsche Projekte stehen kurz davor,
Patienten zu behandeln.

Bakteriophagen sind ständig um und in uns. Ein erwachsener Mensch
bestehe aus etwa 30 Billionen Körperzellen, 40 Billionen Bakterien -
und 300 Billionen Phagen, sagt Phagentherapie-Experte Christian
Willy, Direktor der Klinik für Unfallchirurgie am
Bundeswehrkrankenhaus Berlin. Bakteriophagen sind Viren, die in
Bakterien Vermehrungsprogramme in Gang setzen, bis die Masse neu
produzierter Viren die Bakterienzelle zum Platzen bringt.
Bakterienansammlungen etwa in einem Entzündungsherd können so rasch
verschwinden.

Eines der Projekte, bei dem bald Patienten behandelt werden sollen,
ist «Phage4Cure», bei dem eine Therapie mit inhalierbaren Phagen
gegen den gefürchteten Krankenhauskeim Pseudomonas aeruginosa
entwickelt wird. Oft besiedelt der Erreger die Lunge von
Mukoviszidose-Patienten. Im Spätsommer soll es mit einer klinischen
Phase-I-Studie zur grundsätzlichen Verträglichkeit losgehen, wie
Christine Rohde am Leibniz-Institut DSMZ (Deutsche Sammlung von
Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH) in Braunschweig sagt. Anders
als meist üblich gebe es direkt auch eine Kohorte mit Patienten.
«Wenn die Phase I erfolgreich läuft und es den Patienten besser geht,
dann ist ein echter Meilenstein für die Phagentherapie in Deutschland
erreicht.»

Vereinzelt werden in Deutschland bereits Patienten behandelt, bei
denen die verfügbaren zugelassenen Therapien keine Wirkung zeigen.
Zum Beispiel von Christian Kühn, Leiter des Nationalen Phagenzentrums
der Medizinischen Hochschule Hannover. «Ich sehe tagtäglich, was
Antibiotika-Resistenzen anrichten», betont der Mediziner. «Wir
brauchen Alternativen.» Mehr als 30 Patienten wurden in Hannover
bereits behandelt, oft gegen Staphylococcus aureus, ein Bakterium,
das hartnäckige Wundinfektionen verursachen kann.

Auf die dabei genutzte individuelle Herstellung jeweils für den
einzelnen Patienten - magistrale Anwendung genannt - setzt auch das
zweite große deutsche Vorhaben, das von der Klinik für
Unfallchirurgie am Bundeswehrkrankenhaus Berlin durchgeführte Projekt
«PhagoFlow». Während es bei «Phage4Cure» um ein Krankheitsbild, e
inen
Erreger und eine verabreichte Mixtur geht, sollen im Zuge von
«PhagoFlow» unterschiedliche und auf verschiedene Erreger
zurückgehende Krankheitsbilder behandelt werden, wie Projektleiter
Willy erklärt. Ab der zweiten Jahreshälfte könnten erste Patienten
behandelt werden, hofft er.

Schon seit etwa einem Jahrhundert werden Bakteriophagen als Mittel
gegen Infektionen eingesetzt. Entdeckt wurden sie gut zehn Jahre
bevor der schottische Bakterienforscher Alexander Fleming 1928 die
antibiotische Wirkung des Penicillins herausfand.

Ein großer Unterschied beider Bakterien-Killer: Während Antibiotika
eher wie eine Massenvernichtungswaffe funktionieren, sind Phagen
Auftragsmörder mit ganz bestimmtem Ziel. Sie befallen jeweils nur
eine Bakterienart, sehr häufig sogar nur einen bestimmten Stamm einer
Art. Das macht die Nutzung kompliziert: Für die jeweiligen
Bakterienstämme eines Patienten muss zunächst der passende Phage
gefunden werden. «Und meist spielt bei einer kritischen Infektion
mehr als ein Stamm eine Rolle», erklärt Holger Ziehr, Leiter der
Pharmazeutischen Biotechnologie am Fraunhofer-Institut für
Toxikologie und Experimentelle Medizin (ITEM).

Doch wo findet man passende Phagen, um einen bestimmten Erreger zu
bekämpfen? Oft wählen Experten dafür eine ganz einfache Quelle:
«Abwasser», sagt der Phagenforscher Alexander Harms vom Biozentrum
der Universität Basel. Auf Nährplatten werden zunächst die Bakterien

gezüchtet, gegen die man Phagen einsetzen möchte. Auf den
Bakterienrasen kommt die Wasserprobe. Ist ein das Bakterium tötender
Phage dabei, entsteht ein Loch im Bakterienrasen - aus dieser Stelle
wird das Virus isoliert und im Labor vermehrt.

Viel mehr Aufwand also, als eine gegen viele Erreger wirkende Pille
aus der Schublade zu holen. Doch die Wunderwaffe Antibiotika droht
stumpf zu werden. Mehr als 30 000 Todesfälle gehen in der EU nach
Schätzungen jährlich auf antibiotikaresistente Bakterien zurück. Rund

700 000 sind es nach Schätzungen weltweit. Tendenz steigend. Kann die
Phagentherapie Abhilfe schaffen?

In den Ostblockstaaten - wo es zunächst keinen breiten Zugang zu
Antibiotika gab - wurden weiter häufig Phagen genutzt. Bis heute sind
Institutionen aus solchen Ländern weltweit führend, allen voran das
Georgi-Eliava-Institut in Tiflis, Georgien. Andere Länder wie die
USA, Belgien, Frankreich lassen die Therapieform nun wieder aufleben.
Beispiele aus den USA zeigten, dass es inzwischen möglich sei, binnen
10 Tagen eine passende Phagentherapie für einen Patienten zu
erstellen, sagt Christian Kühn vom Phagenzentrum in Hannover.

Überzeugende Ergebnisse zur Effizienz von Phagen in sehr großen
klinischen Studien, wie sie in der Arzneimittelforschung zum
geforderten Standard geworden sind, gibt es zu den oft nur
individualisiert einsetzbaren Phagen bisher nicht, wie
Phagen-Expertin Christine Rohde sagt. Einzelfallberichte und kleinere
Studien zeigen beeindruckende Erfolge, wie die deutschen Experten
erzählen.

In einer kürzlich vorgestellten Studie wurden 20 Patienten mit
hartnäckigen bakteriellen Infektionen mit Bakteriophagen behandelt.
Bei elf Patienten sei die Therapie erfolgreich verlaufen, berichteten
die Forschenden im Fachblatt «Clinical Infectious Diseases».
Nebenwirkungen traten demnach nicht auf. Ziehr verweist auf das
heterogene Teilnehmerkollektiv, zu dem Kinder wie auch Erwachsene mit
diversen Krankheitsbildern, komplexen Infektionen und
unterschiedlichen Erregertypen zählten. Dass angesichts dieser
Umstände mehr als die Hälfte der Teilnehmer auf die Therapie
angesprochen habe, sei beeindruckend, sagt der Experte, der nicht an
der Arbeit beteiligt war.

Komplett ersetzen werden Bakteriophagen die Antibiotika nicht, wie
die Experten betonen. Ein vielversprechender Weg könnte vor allem die
Kombination von Bakteriophagen und Antibiotika sein, basierend auf
der sogenannten Phagen-Antibiotika-Synergie (PAS), erklärt der
Berliner Phagenforscher Willy. Es habe sich gezeigt, dass resistente
Bakterien bei einem Patienten wieder empfindsam gegen Antibiotika
werden können, wenn dieser zuvor mit Phagen behandelt wurde.