BA.5 und steigende Inzidenzen - droht jetzt eine Frühsommerwelle? Von Josefine Kaukemüller, dpa

Dass im Herbst die Corona-Inzidenzen wahrscheinlich wieder steigen,
legen mehr als zwei Jahre Pandemie-Erfahrung nahe. Doch schon jetzt
gehen die Zahlen deutlich hoch. Sind Fachleute deshalb besorgt?

Berlin (dpa) - Der Sommer hat 2020 und 2021 für ein Aufatmen in der
Corona-Pandemie gesorgt. Doch dieses Jahr verunsichert das zuletzt
sich wieder verschärfende Infektionsgeschehen viele. Die Inzidenzen
klettern, das Robert Koch-Institut (RKI) warnt vor wachsendem
Infektionsdruck. So blicken Experten aus Wissenschaft und Medizin auf
den dritten Corona-Sommer:

Warum steigen die Zahlen wieder?

Die trotz milder Temperaturen zunehmenden Zahlen - die bundesweite
Sieben-Tage-Inzidenz machte am Dienstag einen Sprung auf 447,3
im Vergleich zu 331,8 am Vortag - haben laut Experten mehrere Gründe.

Zum einen ist da der Omikron-Subtyp BA.5, der zuletzt in Deutschland
stetig zulegt. «Die Untervariante BA.5 ist noch ansteckungsfähiger
als alle Varianten zuvor, kann sich also auch unter den für das Virus
widrigen Bedingungen im Sommer verbreiten», erklärt Epidemiologe Timo
Ulrichs von der Akkon Hochschule für Humanwissenschaften in Berlin.
Zudem könne BA.5 nach derzeitigem Kenntnisstand dem Immunsystem
entwischen, selbst wenn es schon Kontakt zu Omikron-Varianten hatte,
mahnt Ulrichs. Auch vollständig Geimpfte seien nicht vor einer
Infektion gefeit. «Das bedeutet, es kommt eine große Anzahl von
Wirten für die Verbreitung in Frage.»

Nach Wellen in Ländern wie Portugal rechnen auch hierzulande viele
Fachleute damit, dass BA.5 bald dominant werden dürfte. Laut letztem
RKI-Wochenbericht beträgt der Anteil von BA.5 nach den letzten Daten
etwa von vor zwei Wochen zehn Prozent - er dürfte aber inzwischen
weitaus höher liegen, schätzt der Generalsekretär der Deutschen
Gesellschaft für Immunologie, Carsten Watzl.

Auf der anderen Seite steht ein allgemein verändertes Verhalten
vieler Menschen. Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für
Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen verweist vor dem
Hintergrund gefallener Corona-Beschränkungen auf höhere Mobilität und

mehr Kontakte - und das bei deutlich geringerem Schutzverhalten wie
Maskentragen. Auch die nun bei vielen länger zurückliegende Impfung
spiele eine Rolle bei der wieder zunehmenden Verbreitung: «Die
Immunität hat im Schnitt abgenommen, vor schweren Erkrankungen sollte
aber noch ein deutlicher Schutz vorhanden sein», so Zeeb.

Droht eine richtige Frühsommerwelle - und wie könnte sie ablaufen?

Immunologe Watzl ist sicher: Einstellige Inzidenzen wie etwa im
letzten Sommer wird es dieses Jahr nicht geben. «Die Inzidenzen
werden - wie aktuell zu sehen - bei einigen Hundert liegen. Dafür ist
Omikron zu ansteckend.» Er geht davon aus, dass sich rund die Hälfte
der Bevölkerung noch nicht mit Omikron infiziert hat. «Da die Impfung
nicht so gut vor der reinen Ansteckung schützt, hat das Virus also
noch ausreichend Potenzial, Menschen zu infizieren.»

Ob BA.5 Inzidenzen von über 1000 verursachen werde, sei aktuell aber
noch schwer abzuschätzen. «Die Möglichkeit einer Sommerwelle besteht

aber», so Watzl. Auch Zeeb will sich nicht festlegen, wie hoch eine
befürchtete Frühsommerwelle steigen könnte. Nicht zwangsläufig seie
n
ebenso hohe Zahlen wie in Portugal zu erwarten, wo derzeit europaweit
die mit Abstand höchsten Inzidenzen ausgewiesen werden.

Lässt sich so eine Welle irgendwie bremsen?

Nur mit raschen, strikten Maßnahmen, sagen die Experten. «Aus meiner
Sicht ist es kaum möglich, außer mit sehr drastischen Maßnahmen
aktuell steuernd einzugreifen», befindet Zeeb. Insbesondere die
Risikogruppen wie ältere Menschen sollten deshalb aktiv zur
Booster-Impfung aufgerufen werden, um ihren Schutz zu optimieren.
Konkret sieht Ulrichs in der Wiedereinführung von Schutz-Maßnahmen
wie dem flächendeckenden Maskentragen die einzige Möglichkeit, den
aktuellen Trend zu bremsen. Immunologe Watzl verweist vor dem
Hintergrund aber darauf, dass derzeit die rechtlichen Möglichkeiten
fehlten, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen.

Wie dramatisch ist der aktuelle Anstieg?

Auch wenn die Zahlen Wachsamkeit erfordern, einen Grund zur Panik
sehen die Fachleute nicht. Intensivmediziner Stefan Kluge vom
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf spricht momentan von einem
«moderaten» Anstieg der Infektionszahlen. «Es muss in der aktuellen
Lage darum gehen, Erkrankung und nicht so sehr die reine Infektion zu
verhindern. Daher ist eine Sommerwelle zunächst auch erst mal nicht
besorgniserregend», sagt Watzl. Dennoch gelte es, besonders
vulnerable Menschen weiterhin konsequent zu schützen.

Zeeb sagt, es werde zwar absehbar mehr Infektionen geben, da aber
BA.5 nach aktuellem Kenntnisstand klinisch ähnlich verlaufe wie
vorherige Omikron-Varianten, dürfte es meist bei milden Verläufen
bleiben. In der Summe könne es wieder etwas mehr Hospitalisierungen
und auch Todesfälle geben, wenn die Infektionszahlen deutlich
ansteigen, denkt er - eine Überlastung des Gesundheitswesens steht
aus seiner Sicht aber nicht bevor.

Auch Kluge befindet mit Blick auf Normal- und Intensivstationen,
wegen der wohl eher milden Verläufe durch Omikron-Sublinien sei eine
deutliche Belastung des Gesundheitssystems durch sie im Sommer eher
unwahrscheinlich. Dennoch bedeute eine hohe Anzahl von positiven
Patientinnen und Patienten auch für Normalstationen eine deutliche
Mehrbelastung - insbesondere für die Pflegenden. Watzl verweist auch
auf mögliche Ausfälle bei Firmen durch viele leichte Infektionen.

Was bedeutet das für mich persönlich: Unbeschwertheit oder Vorsicht?

Mit Blick auf das individuelle Verhalten appellieren die Experten
jetzt wieder an die Selbstverantwortung. In den kommenden Wochen
erwartet Zeeb ein Auf und Ab der Infektionszahlen, ab Herbst und
Winter aber dann auch wieder einen Anstieg der Infektionen. So müsse
klar sein, «dass Corona unter uns ist, es gibt da keine Sicherheit»,
betont Zeeb. Da umfassende Regulierungen weitgehend wegfielen, müsse
nun jede und jeder selbst in Situationen mit vielen Menschen,
insbesondere in Innenräumen und in öffentlichen Verkehrsmitteln, an
Schutz mit Masken denken und auch den Impfschutz aktuell halten.
Ulrichs befindet: «Ein bisschen mehr Vorsicht wäre hilfreich.»