Die versteckte Pandemie - rund 14 Millionen Menschen mit Adipositas Von Christina Sticht, dpa

Starkes Übergewicht ist kein Wohlstands-Phänomen. Das deutsche
Gesundheitssystem muss schnell auf die wachsende Patientengruppe
reagieren, fordern Experten. Was hilft den Betroffenen am meisten?

Hannover (dpa) - Sie ist eine gefährliche chronische Krankheit und
wird doch häufig nicht ernst genommen. Menschen mit Adipositas sind
halt Genießer, heißt es dann zum Beispiel. «Oft sagt der Hausarzt,
essen Sie weniger und bewegen Sie sich mehr», weiß Michael Wirtz aus
Erfahrung. Doch so einfach sei das Problem nicht in den Griff zu
bekommen. Wer kenne nicht den Jojo-Effekt? Der 50-Jährige aus Winsen
bei Hamburg engagiert sich in der Adipositas-Selbsthilfe und bloggt
rund um das Thema extremes Übergewicht.

Wie viele Betroffene ist Wirtz seit seiner Kindheit übergewichtig.
Als Berufssoldat bei der Bundeswehr habe er durch Sport das Gewicht
noch in Schach halten können, doch nach seinem Ausscheiden landete er
irgendwann bei 160 Kilogramm. Vor rund zehn Jahren erhielt Wirtz
einen Magen-Bypass. Danach halbierte er sich, inzwischen ist er
wieder bei etwa 110 Kilo angekommen.

«Schon vor der Corona-Pandemie war Adipositas eine Volkskrankheit,
nun dürften mehr Menschen betroffen sein als je zuvor - darauf weisen
erste Daten hin», warnt Jens Aberle, Präsident der Deutschen
Adipositas-Gesellschaft (DAG). Damit aus den Corona-Kilos keine Welle
schwerwiegender Folgekrankheiten entstehe, müsse die Therapie
gestärkt werden, fordert der ärztliche Leiter am Adipositas-Centrum
des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE). 13 Krebsformen
werden mit Adipositas in Zusammenhang gebracht, zudem unter anderem
Erkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck, Herzinfarkt und
Schlaganfall.

Nach Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) waren bereits vor
Pandemiebeginn bundesweit rund 16 Millionen Erwachsene und etwa
800 000 Kinder und Jugendliche von Adipositas betroffen. Als adipös
gelten Menschen mit einem Body Mass Index (BMI) von mehr als 30,
Übergewicht beginnt bei einem BMI von über 25. Der BMI wird aus
Körpergröße und -gewicht berechnet. Alarmierende Zahlen
veröffentlichte Anfang Mai auch die Weltgesundheitsorganisation WHO
in ihrem Europäischen Fettleibigkeitsbericht 2022, demzufolge mehr
als die Hälfte der Erwachsenen in Europa übergewichtig oder adipös
sind.

Derzeit beginne die Therapie oft zu spät, kritisiert Wirtz. «Menschen
mit Adipositas sind in Deutschland unterversorgt.» Wichtig sei ein
individueller Plan, der aus Ernährungs-, Bewegungs- und
Verhaltenstherapie bestehe. Es müssten auch mögliche psychische
Erkrankungen abgeklärt werden. Zudem sei zu entscheiden, ob eine
konservative Therapie ausreiche oder ein chirurgischer Eingriff
möglich und notwendig sei.

Laut einem vor kurzem im «Deutschen Ärzteblatt» erschienenen Aufsatz

werden bundesweit etwa 20 000 adipositaschirurgische Operationen pro
Jahr gemacht. Die am häufigsten angewendeten Verfahren führten zu
einem Gewichtsverlust von 27 bis 69 Prozent des überschüssigen
Körpergewichts nach mehr als zehn Jahren, hieß es. Allerdings sei
eine lebenslange Nachsorge erforderlich.

Die Krankenkassen zahlten häufig erst die chirurgischen Eingriffe,
aber keine anderen Programme, bemängelt Wirtz. «Die Folgekosten für
die Gesellschaft werden dabei nicht bedacht.» Das Iges Institut, ein
Forschungs- und Beratungsinstitut für Infrastruktur- und
Gesundheitsfragen, schätzte die indirekten Kosten der Adipositas
bereits 2016 auf 6 bis 33 Milliarden Euro pro Jahr.

Es ist ein Teufelskreis: Häufig schaffen es Personen mit extremem
Übergewicht irgendwann nicht mehr aus ihrer Wohnung und nehmen weiter
zu. In Hannover öffnete im August 2021 ein Spezialpflegebereich für
Menschen mit starker Adipositas im Alter zwischen 30 und 60 Jahren.
Nach Angaben des Betreibers Diakovere gibt es bundesweit bisher nur
eine Handvoll derartiger Einrichtungen, meist mit dem Fokus allein
auf der Pflege. In Hannover werden dagegen individuelle Therapiepläne
aufgestellt - in Abstimmung mit dem Kompetenzzentrum für
Adipositaschirurgie und der Klinik für Psychosomatik der Diakovere.
Bausteine sind Bewegungsangebote, die Umstellung der Ernährung sowie
psychologische Unterstützung.

«Die Menschen auf der Station bezeichnen wir bewusst als Patienten,
nicht als Bewohner», sagt Pflegeleiterin Yvonne Sabovic-Dunsing. Ziel
sei die Rückkehr nach Hause und in den Job. Sechs Plätze stehen zur
Verfügung, täglich gehen Anfragen aus ganz Deutschland und sogar dem
deutschsprachigen Ausland ein. Vier Männer und zwei Frauen werden
derzeit begleitet. Bei der Aufnahme war keiner mehr in der Lage zu
arbeiten. Laut Sabovic-Dunsing lebten die meisten bei Eltern oder
Geschwistern und wurden von ihnen versorgt - so weit dies überhaupt
möglich war.

Wer über 200 oder gar an die 300 Kilogramm wiegt, kann sich kaum noch
bewegen. Alles auf der Station - auch die Rollstühle oder Balkonmöbel
- sind auf Schwerlast ausgelegt. Ursache für den extremen
Gewichtszuwachs auf über 200 Kilo ist meist ein besonderer Auslöser:
Jobverlust, Trennung vom Partner, auch die Corona-Pandemie war teils
ein Beschleuniger.

«Als wir das erste Mal gemeinsam draußen waren, haben einige geweint,
weil sie vier, fünf Jahre nicht mehr an der frischen Luft waren»,
erzählt Sabovic-Dunsing. Ein Interview geben möchte keiner der sechs,
auch nicht der junge Mann, der bereits mehr als 80 Kilo abgenommen
hat und inzwischen einmal wöchentlich allein mit der Bahn zum
Schwimmen mit einem Therapeuten fährt. Der Pflegeleiterin zufolge
haben die meisten traumatische Erfahrungen hinter sich.

Oft werden Betroffene aus Unwissenheit oder Gemeinheit als faul oder
willensschwach beschimpft. Viele erlebten Hänseleien bis hin zu
Mobbing von klein auf. Meike Preußner ist selbstbewusst und direkt -
vielleicht sei sie deshalb nie wegen ihrer Statur verspottet worden,
glaubt die 32-Jährige aus Hamburg, die sich auch in der Selbsthilfe
engagiert. Sie habe lange das Problem verdrängt und sei sehr aktiv
gewesen: Reiten, Schwimmen - trotz Adipositas. «Irgendwann habe ich
dann aber gemerkt, dass ich beim Wandern mit Freunden nicht mehr den
Berg hochkam.» 2013 - mit knapp 160 Kilo - ließ sie sich einen
Magen-Bypass einsetzen.

Immer noch macht sie fast täglich Sport, um ihr Gewicht von etwas
über 100 Kilogramm zu halten. Die Tiermedizinische Fachangestellte
bietet Wassergymnastik-Kurse für Menschen mit Adipositas an. Im
Schwimmbad in Lüneburg wird dafür ein Bewegungsbecken reserviert, das
nicht vom gesamten Badebetrieb einsehbar ist. In der Gruppe sei die
Hemmschwelle geringer, trotz starken Übergewichts ins Schwimmbad zu
gehen, erzählt Preußner. Die Kurse seien sehr gefragt. «Schade, dass

es noch nicht überall in Deutschland solche Angebote gibt.»

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