«Am Ende durfte man gerade nur noch atmen» Von Caroline Bock, dpa

Die Generation der Holocaust-Überlebenden ist hoch betagt. Wie kann
man ihr Vermächtnis bewahren? Und wie erreicht man mit ihren
Geschichten Kinder in 20 Jahren? Einige Antworten finden sich in
einem Filmstudio in Babelsberg.

Potsdam (dpa) - Ruth Winkelmann (93) spricht mit der Zukunft.
«Hallo», sagt sie. «Schön, dass du da bist.» Sie trägt eine Ket
te mit
einem Davidstern um den Hals, die braunen Haare kurz geschnitten.
Gerade ist sie aus der Maske gekommen. Sie sitzt allein auf einem
Stuhl in einem Filmstudio in Potsdam-Babelsberg. Das Licht schimmert
weich, die Kulisse sieht aus wie das Innere einer riesigen weißen
Trommel. Hier wird die alte Dame aus ihrer Kindheit und Jugend
erzählen, davon, wie sie den Terror der Nazis überlebt hat.

36 Kameras, die wie Augen aus der Wand lugen, sind auf sie gerichtet.
Aus den Daten wird mit Hilfe von futuristischer Technik eine neue
Form von 3D-Aufnahme, ein «Volucap». In dem Studio, in dem sonst
Werbung oder ein Kinofilm wie «Matrix 4» gedreht wird, entsteht so
Zeitgeschichte zum Anfassen für spätere Generationen.

Regisseur Christian Zipfel hat Ruth Winkelmann erklärt, wie sein
Interview abläuft. Etwa, dass sie in ganzen Sätzen antworten soll.
«Kriegen wir hin», sagt Winkelmann. Mit Interviews hat sie Erfahrung.
Sie ist viele Jahre als Zeitzeugin vor Schulklassen und bei Lesungen
unterwegs gewesen, das Buch «Plötzlich hieß ich Sara» handelt von
ihrem Leben in der NS-Zeit. Sie wuchs in einer christlich-jüdischen
Familie in Berlin auf und überstand die Verfolgung in einer Laube
versteckt. Nach dem Krieg verkaufte sie Strickmaschinen in einem
Laden im Wedding. Man hört: Sie ist eine waschechte Berlinerin.

Neue Wege des Erinnerns

Die zweifache Urgroßmutter gehört zu der Generation der sehr betagten
Zeitzeugen, deren Vermächtnis bewahrt werden soll. Wie viele
Holocaust-Überlebende 77 Jahre nach Kriegsende noch am Leben sind,
weiß man nicht genau. Es gibt viele Ansätze in der Erinnerungskultur.
Ein berühmtes Beispiel ist Steven Spielbergs Archiv, das in den 90er
Jahren begann, die Stimmen der Überlebenden zu dokumentieren. Das
Deutsche Technikmuseum in Berlin testet ein interaktives Modell mit
der Auschwitz-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch: Mit Hilfe von
Spracherkennung gibt diese auf einer Monitor-Darstellung Antworten
auf Fragen von Schülern.

Im Studio in Babelsberg erzählt Betriebsleiter Torsten Schimmer, wie
die Technik des Startups Volucap funktioniert: Man kann auf dem
Handy-Bildschirm zuvor gefilmte Menschen direkt vor sich in der
Umgebung erscheinen lassen. Sie bewegen sich. Das sieht täuschend
echt aus. Noch ist das ungewohnt, aber Gewohnheiten ändern sich. Eine
Frage ist für Torsten Schimmer: «Wie erreiche ich Kinder in 20
Jahren?» Was heute gängig ist, wird dann wohl überholt sein.
Vielleicht wird man dann normale Videos so anschauen wie heute
Gemälde.

Durch die sogenannte volumetrische Erfassung soll der Betrachter das
Gefühl bekommen, mit den Gefilmten im gleichen Raum zu sein. Die
Kameras im Studio haben eine Auflösung von mehr als 100 Kinokameras.
Die Menge an verarbeiteten Daten ist riesig: In einer Minute sind es
so viel wie bei zehn Jahren Musik, erklärt Volucap-Geschäftsführer
Sven Bliedung von der Heide. Handys sind für ihn eine «technische
Krücke». Bald könnten sie seiner Meinung nach von
Mixed-Reality-Brillen abgelöst werden, bei denen die reale und die
digitale Welt verschmelzen. Das wäre dann zum Beispiel als Technik
auch bei Gedenkstätten-Besuchen denkbar.

Nichts ersetzt die persönliche Begegnung

Die Erzählungen der Holocaust-Überlebenden sollen für die technischen

Möglichkeiten der Zukunft bewahrt werden - in einer Zeit, in der man
sie noch selbst befragen kann. Die Filmuniversität Babelsberg Konrad
Wolf hat das vom Land Brandenburg geförderte Projekt gestartet. Als
Erste war dabei die unermüdliche Margot Friedländer (100) im Studio,
um zur Zeitzeugin in 3D zu werden. Nichts ersetze die persönliche
Begegnung, sagt Bliedung von der Heide. Aber: «Es ist das Nächste,
was wir schaffen, um das zu erreichen.»

Ruth Winkelmann wird etwas über eine Stunde befragt. Regisseur
Christian Zipfel hat sich akribisch vorbereitet. Er sitzt draußen und
sieht die Zeitzeugin auf einem großen Monitor. Er lässt sie
beschreiben, wie das jüdische Leben vor 1938 war. «Uns hat eigentlich
keiner behelligt», sagt Winkelmann.

Dann geht es um die Pogrom-Nacht, die zerschlagenen Scheiben der
jüdischen Geschäfte und die brennenden Synagogen. Winkelmann erinnert
sich, wie ein Mann geschlagen und ihm mit weißer Farbe ein Davidstern
auf den Mantel gemalt wurde. Wie sie mit anderen Kindern in einer
Schulaula ausharrte und betete.

Sie zählt auf, wie die Nazis die Juden mit immer neuen Verboten und
Regeln drangsalierten. «Am Ende durfte man gerade nur noch atmen.»
Der Vater schrieb aus dem Konzentrationslager Auschwitz zunächst noch
Postkarten. Das hörte im Juli 1943 auf. Die kleine Schwester starb an
Diphtherie. Sie selbst überlebte zwei Jahre in einer Laube im Norden
Berlins, ohne Heizung oder fließendes Wasser.

«Ich habe mich befreit»

Ruth Winkelmann spricht hochkonzentriert und anschaulich. Auch nach
dem intensiven Interview ist sie noch nicht zu müde für ein Gespräch.

Die moderne Technik sieht sie locker. Einzig das Licht war anders als
sonst, wie sie sagt. Nach 1945 mochte sie viele Jahrzehnte nicht über
ihre Erlebnisse in der Nazi-Zeit reden. Das änderte sich erst durch
eine Urlaubsbekanntschaft vor 20 Jahren, die sie dazu brachte,
Schülern von sich zu erzählen. Am Anfang weinte sie sehr viel. Der
Ballast wurde weniger. «Ich habe mich befreit.»

Dass Ausschnitte aus ihren Interviews immer wieder auftauchen, kennt
sie. «Ach, ich habe dich im Fernsehen gesehen», sagen die Leute dann.
Das ist für sie in Ordnung. «Hauptsache, das Thema geht nicht unter.»

Sagt man nicht, dass die Schüler das heute alles nicht mehr
interessiert? Ruth Winkelmann wird vehement. «Das stimmt nicht.» Die
Kinder kämen teilweise bis zum Auto mit, um sie zu verabschieden.
Auch die Älteren seien an ihrer Geschichte interessiert. Einmal in
der Woche gehe sie in die Sauna. Da kämen regelmäßig Leute und
fragten: «Frau Winkelmann, haben Sie nicht noch ein Buch?»

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