Zwei Jahre Corona-Pandemie in Deutschland - Was wir verloren haben Von Stefan Heinemeyer, Antje Kayser, Tobias Hanraths, Christian Hollmann und Sandra Trauner, dpa

Deutschland geht ins dritte Jahr mit Corona. Das Virus hat den
Menschen viel genommen. Den Handschlag, die Unbeschwertheit, manchen
das Vertrauen in die Politik, anderen die wirtschaftliche Existenz -
und vielen noch mehr.

Berlin (dpa) - Seit zwei Jahren lebt Deutschland mit dem Coronavirus.
Nach der ersten Bestätigung eines Falles am 27. Januar 2020 bei einem
Mann aus Bayern hat das Robert Koch-Institut (RKI) fast neun
Millionen Corona-Fälle registriert. Sars-CoV-2 hat das Land
verändert. Dauergenervte Menschen wünschen sich ein «normales Leben
»
zurück. Vielen Menschen hat das Virus jedoch das Leben genommen. Was
wir durch das Virus verloren haben:

Verlust an Menschenleben

Rund 117 000 Menschen starben in Deutschland bislang an oder unter
Beteiligung einer Infektion, ein Vielfaches an Menschen verlor
Angehörige, Freunde oder gute Bekannte. Das Statistische Bundesamt
spricht von einer Übersterblichkeit durch Corona. «Von März 2020 bis

Mitte November 2021 sind in Deutschland mehr Menschen verstorben, als
unter Berücksichtigung der demografischen Entwicklung zu erwarten
gewesen wäre», sagte Destatis-Vizepräsident Christoph Unger Ende
2021. Der Anstieg sei nicht allein durch die Alterung der Bevölkerung
erklärbar, sondern maßgeblich durch die Pandemie beeinflusst. Dass
die Zahl der Todesfälle 2021 erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg die
Marke von einer Million überschritt, liegt aber nur zum Teil an
Corona. Weil es immer mehr alte Menschen gibt, steigen die jährlichen
Totenzahlen seit etwa 20 Jahren, im Schnitt um ein bis zwei Prozent.

Kliniken und Heime verlieren Pflegekräfte

Die Pandemie hat die Personalengpässe in der Pflege verschärft. Die
Deutsche Krankenhausgesellschaft berichtete im jüngsten
Krankenhaus-Barometer von 22 300 unbesetzten Stellen, dreimal so viel
wie 2016. Viele Pflegekräfte arbeiten am Limit und fühlen sich
ausgebrannt. Es gibt vielerorts Kündigungen, hier spielt auch die
geplante berufsbezogene Impfpflicht eine Rolle. Fast 40 Prozent der
Pflegenden erwägen einen Berufswechsel, wie eine jüngst publizierte
Befragung der Alice Salomon Hochschule (ASH) Berlin unter rund 2700
Pflegepersonen ergab.

Bildungsrückstände bei Schülern

Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) spricht von
«großen Bildungslücken» durch die ersten Corona-Wellen, die mit
Schulschließungen und Wechselunterricht einhergingen. Vorgängerin
Anja Karliczek räumte schon im vergangenen Frühjahr ein, dass 20 bis
25 Prozent der Schüler «vermutlich große Lernrückstände» aufwie
sen.
Das Mitte 2021 gestartete «Aufholprogramm» bewerten Bildungs- und
Lehrerverbänden ein halbes Jahr später kritisch. Ziel der
Bildungspolitik ist es, die Schulen so lange wie möglich
offenzuhalten.

Die Jugend - eine verlorene Generation?

Sport- und Musikveranstaltungen fielen weg, Treffen mit Freunden
wurden eingeschränkt, Klassen- und Abifahrten abgesagt, ein
Studentenleben findet kaum statt. Die Betroffenen fühlen sich maximal
eingeschränkt, sagt der Kinder- und Jugendpsychotherapeut Ralph
Schliewenz. Es gebe das Gefühl, dass Türen sich schlössen, statt sich

zu öffnen. Dennoch rät der Präsidiumsbeauftragte für Kindeswohl und

Kinderrechte des Berufsverbands Deutscher Psychologinnen und
Psychologen (BDP) zu Gelassenheit: Die Jugend sei ohnehin geprägt von
Veränderungen. Zwar gebe es mehr Jugendliche mit Anpassungsproblemen,
der Großteil passe sich aber sehr gut an - weshalb Schliewenz auch
ausdrücklich nicht von einer «verlorenen Generation» sprechen will.


Drastischer sieht das Christine Freitag, Kinder- und
Jugendpsychiaterin am Universitätsklinikum Frankfurt am Main. «Das
Bildungsniveau ist schon vor der Pandemie deutlich zurückgegangen»,
sagt Freitag, «das wird noch schlimmer werden». Dies habe langfristig
negative Folgen für die Gesellschaft. Kinder und Jugendliche müssten
sich ausprobieren, entwicklungspsychologisch seien sie auf das Lernen
von Anderen angewiesen und brauchten mehr Sozialkontakte als
Erwachsene. Für die Entwicklung der eigenen Emotionalität und der
sozialen Kompetenz benötigten Kinder ein Gegenüber. In der Praxis
sieht die Klinikdirektorin beispielsweise eine deutliche Zunahme an
Essstörungen, auch bei jüngeren Kindern.

Brüchiger Familienfrieden? Verlorene Freundschaften

Homeoffice und Kinderbetreuung, häusliche Enge, womöglich
Impfdiskussionen: Pandemiebedingte Probleme seien hier
vorprogrammiert, da könne auch der Familienzusammenhalt bröckeln,
sagt der Kinder- und Jugendpsychotherapeut Schliewenz. Wichtig sei,
ein soziales Netzwerk wie Freundschaften aufzubauen, um
gegebenenfalls anderweitig Halt zu bekommen. Schliewenz geht aber
davon aus, dass die Mehrheit den Alltag gut geregelt bekommt. Zur
Wahrung des Familienfriedens rät er, insbesondere beim Thema Impfen
keine Entscheidung gegen den Willen von Kindern zu fällen.

Viele Paare sind in der Pandemie aber auch zusammengerückt. In einer
Umfrage des YouGov-Cambridge Globalism Projects, über die «Zeit
Online» berichtete, gaben 15 Prozent an, sie seien in der Pandemie
Partnerin oder Partner näher gekommen, 7 Prozent sprechen hingegen
von einer wachsenden Distanz, knapp die Hälfte macht keinen
Unterschied aus. Anders fällt das Urteil bei Freundschaften aus. 30
Prozent meinten, die Beziehung zu Freunden sei weniger eng geworden,
nur 8 Prozent sehen das gegenteilig und gut die Hälfte keinen
Unterschied.

Ist der gesellschaftliche Zusammenhalt abhanden gekommen?

Nein, meint die Soziologin Claudia Diehl, Co-Sprecherin des
Exzellenzclusters «Die politische Dimension von Ungleichheit» an der
Universität Konstanz. «Das Thema Corona ist im Alltag sehr präsent,
deshalb ist es so schwer, es zu umgehen. Wir kennen alle den
Impfstatus unseres Gegenübers.» Das Thema berühre zudem etwas
Entscheidendes für die sozialen Beziehungen: «Impfbefürworter
argumentieren mit Solidarität und dem Schutz für Alte und Kranke, in
ihrer Wahrnehmung sind Andere unsolidarisch, und das geht an die
Grundsubstanz sozialer Beziehungen.» Das gelte gerade zwischen sich
nahe stehenden Menschen.

Eine Spaltung der Gesellschaft sieht Diehl aber nicht. «Spaltung
suggeriert in etwa gleich große Gruppen. Wir sehen in vielen
Bereichen aber eigentlich eine zunehmende Übereinstimmung.» Nur eine
kleine Minderheit trage etwa im Zug keine Maske, die Erstimpfrate bei
Erwachsenen sei sehr hoch, die 3G-Regel am Arbeitsplatz finde
wachsende Zustimmung.

Entscheidend sei das Vertrauen in den Staat, daher sehe man bei den
Corona-Demonstrationen durchaus Probleme, die schon vorher da waren.
«Diese Proteste spiegeln vor allem ein geringes Vertrauen in
staatliche Akteure und leider auch eine zunehmende Allianzbildung mit
Rechtsextremen wider.» Nach der Pandemie werde dieser Eindruck,
Corona hätte die Gesellschaft gespalten, wieder nachlassen, glaubt
die Soziologin. «Wir dürfen nicht vergessen, dass Konflikte und
Meinungsunterschiede zu einer Gesellschaft dazugehören.»

Riesige wirtschaftliche Schäden und Löcher im Staatshaushalt

Für die deutsche Wirtschaft ging in der Krise vor allem viel Geld
verloren. Das Institut der deutschen Wirtschaft bezifferte in einer
aktuellen Analyse den Wertschöpfungsausfall mit rund 350 Milliarden
Euro. Ein Großteil davon gehe auf Ausfälle beim privaten Konsum
zurück, unter anderem wegen Lockdown-Maßnahmen. Viele Privatvermögen

blieben aber von der Krise verschont oder sind gewachsen, etwa durch
den Verzicht auf teure Reisen. Die auch pandemiebedingt kräftig
gestiegene Inflation dürfte sich hier in den kommenden Monaten jedoch
eher negativ auswirken.

Den Staatshaushalt kam die Krise teuer zu stehen. Von Beginn der
Pandemie bis Ende 2021 summieren sich die verschiedenen
Hilfsleistungen der Bundesregierung für die Wirtschaft laut
Wirtschaftsministerium auf rund 130 Milliarden Euro. Bis zum Ende der
Pandemie dürften es noch einige Milliarden mehr werden.

Hinzu kommen mehr als 40 Milliarden Euro für Kurzarbeitergeld und
damit verbundene Sozialleistungen, wie die Bundesagentur für Arbeit
aufführt. Auch deswegen blieb ein großer Jobverlust aus. In der
Gastronomie etwa ging nach Destatis-Angaben fast jeder vierte Job
verloren. Die kurzzeitige Arbeitslosigkeit lag zuletzt sogar
niedriger als vor der Pandemie, die Jugendarbeitslosigkeit so niedrig
wie nie seit der Wiedervereinigung. Andererseits war die Zahl der
Langzeitarbeitslosen zuletzt fast doppelt so hoch wie vor der Krise.

Unter den Branchen gibt es klare Verlierer. Nicht nur in der
Gastronomie, auch im stationären Einzelhandel, im Tourismus und im
Kulturbetrieb gingen durch die Pandemie Existenzen verloren. Andere
Branchen profitierten hingegen - zum Beispiel der Onlinehandel,
IT-Firmen, Paketdienste, Pharmaunternehmen und der Fahrradhandel.

Von der ganz großen Pleitewelle blieb die Wirtschaft verschont. Dank
staatlicher Hilfsmaßnahmen und rechtlicher Sonderregelungen sank
sogar die Zahl der Insolvenzen: Nach neuesten Zahlen des
Statistischen Bundesamts lag sie in den ersten zehn Monaten des
vergangenen Jahres 13,5 Prozent unter dem Wert des gleichen Zeitraums
2020 - und auch unter dem Vor-Corona-Niveau. Experten rechnen aber
für 2022 mit einem Anstieg der Zahlen.

Sport auf der Verliererstraße

Verlieren gehört zum Sport dazu, Corona hat aber ganze Ligen zu
Verlierern gemacht. Das trifft besonders die Fußball-Bundesliga mit
ihren vollen Stadien. Die Verantwortlichen redeten sich über
Jahrzehnte ein, der Sport schaffe als letzte große Bastion in der
Mitte der Gesellschaft Verbindungen, die abseits des Rasens nicht
mehr möglich seien. Und jetzt? Die Corona-Krise hat die Probleme des
Fußballs auf dem Weg weg von den Fans mehr denn je offengelegt.

Wegen korrupter Funktionäre und ausufernder Millionenverträge hatten
sich ohnehin Frust und Widerstand aufgebaut, bevor Corona auch noch
den Gang ins Stadion verhinderte. Nun waren die Profi-Fußballer noch
weiter weg. Ob die Wiederannäherung nach der Pandemie gelingt, bleibt
abzuwarten. «Wir müssen den Fußball wieder mehr zum Strahlen
bringen», sagte der Aufsichtsratschef der Deutschen Fußball Liga,
Borussia Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke.

Über Monate wurde die Bundesliga aufgrund ihrer Popularität auch zum
Spielball der Politik. Entscheidungen über die Fan-Präsenz im Stadion
waren im Verhältnis zu anderen Beschlüssen teils schwer
nachzuvollziehen. Manche Forderung des Fußballs wiederum wirkte wie
der Ruf nach Sonderrechten. Das Verständnis für Millionen-Verluste
der Vereine ist angesichts teils exorbitanter Gehälter begrenzt.

Im Amateursport sind die Sorgen seit zwei Jahren noch existenzieller.
Im vergangenen Oktober hatte der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB)
für das erste Corona-Jahr 2020 einen Schwund von 792 119
Mitgliedschaften bei seinen 87 600 Vereinen beklagt, ein Rückgang von
2,85 Prozent. Im Kinder- und Jugendbereich war die Quote noch
gravierender. Corona verhindert Sport. Und der ist zudem angewiesen
auf die Zehntausenden ehrenamtlichen Helfer, die auch erst wieder in
die Hallen und auf die Plätze zurückgeholt werden müssen.