Corona-Zahlen auf Höchststand - aber zunehmend unvollständig Von Gisela Gross, dpa

Die täglichen Corona-Meldezahlen sind so hoch wie nie. Tendenz
steigend. Experten rechnen zudem mit immer mehr Fällen, die nicht
erfasst werden können. Worauf sie schauen und was sie für die
nächsten Wochen erwarten.

Berlin (dpa) - Es sind Zahlen, wie sie Deutschland in der
Corona-Pandemie noch nicht gesehen hat: Erstmals mehr als 100 000
Neuinfektionen binnen eines Tages meldet das Robert Koch-Institut
(RKI) am Mittwoch. Sieben-Tage-Inzidenz: 584. Betroffen sind bisher
vor allem jüngere Menschen - einer der möglichen Gründe, aus dem ein

vergleichbarer Anstieg von Patientenzahlen in Kliniken bisher nicht
zu sehen ist. Doch die Ausbreitung der Omikron-Variante, mit der sich
auch Geimpfte und Genesene eher wieder anstecken können, wird nach
Einschätzung von Fachleuten schnell weitergehen. Vor Monaten noch
unvorstellbare Höchstwerte scheinen eine Frage der Zeit zu sein, auch
wenn das RKI schon vor Tagen auf eine wachsende Unvollständigkeit der
Meldedaten hinwies.

Meldesystem am Limit: Eine vollständige Erfassung der Infizierten gab
es nie und war auch nie angestrebt - auch nicht bei anderen
Infektionskrankheiten wie der Grippe, hieß es vom RKI. In Zeiten
hoher Inzidenz gehen Fachleute generell von höherer Untererfassung
aus als bei niedrigen Fallzahlen. Insbesondere in diesen und den
kommenden Tagen dürften also noch weit mehr Menschen tatsächlich
infiziert sein als in der Statistik ausgewiesen.

Mit Laboren und Gesundheitsämtern an den Kapazitätsgrenzen gewinnen
aus Expertensicht andere Indikatoren an Bedeutung: RKI-Präsident
Lothar Wieler etwa sprach kürzlich von einer «neuen Phase der
Pandemie», in der weniger die reine Fallzahl, sondern die Zahl der
Schwerkranken entscheidend sein wird. Schon lange betont das RKI,
dass der Blick sich ohnehin weniger auf einzelne Tageswerte, sondern
auf ein Gesamtbild richten sollte. Aktuell gelte: Meldezahlen
verlören nicht völlig ihre Bedeutung.

Weitere Indikatoren: Es gibt eine ganze Reihe weiterer Datenquellen,
mit denen das RKI sich auch künftig in der Lage sieht, die Trends
verlässlich einzuschätzen. Zu akuten Atemwegserkrankungen etwa laufen
mehrere Überwachungsprogramme, die unter anderem auch den ambulanten
Bereich einbeziehen. Die seitenlangen RKI-Wochenberichte zu Corona
drehen sich längst nicht nur um Neuinfektionen und Inzidenz. Im Fokus
des öffentlichen Interesses steht all dies aber bisher weniger, teils
auch wegen der hohen Komplexität. Bei der Hospitalisierungsinzidenz
hingegen, die seit einigen Monaten über Krankenhauseinweisungen
Aufschluss geben soll, ist es so, dass viele Fachleute eingeschränkte
Aussagekraft sehen, etwa wegen hohen Meldeverzugs. Es waren zuletzt
Forderungen nach einer Nachbesserung laut geworden.

Folgen für den Einzelnen: PCR-Tests auf vagen Verdacht hin und ohne
Symptome dürften der Vergangenheit angehören. Eine Warnung über einen

möglichen Risikokontakt via Corona-Warn-App zum Beispiel gilt unter
Fachleuten nicht zwangsläufig als Anlass dafür. Auch ob künftig jeder

positive Schnelltest im Labor nachgeprüft werden kann, ist fraglich.
Allerdings fließen nur die im Labor bestätigten Fälle in die
Meldedaten ein - würde man dabei nun auch positive Schnelltests
berücksichtigen, könnte eine schlechtere Vergleichbarkeit mit den
bisherigen Pandemiedaten drohen.

Wie es weitergehen könnte: Für Wissenschaftler, die Modellierungen
über weitere mögliche Verläufe der Pandemie anstellen, ist es eine
schwierige Phase. «Viele Kennzahlen zu Omikron, die wir für gute
Prognosen bräuchten, sind noch unklar», sagte der Greifswalder
Bioinformatiker Lars Kaderali der Deutschen Presse-Agentur. Wie
werden die Krankheitsverläufe ausfallen? Wie genau beeinflussen die
teils regional in Deutschland variierenden Kontaktbeschränkungen die
Virusausbreitung? Ergebnisse aus dem Ausland sind nicht 1:1 auf
Deutschland übertragbar, weil sich jeweils Faktoren wie etwa
Impfquote, Altersstruktur der Bevölkerung, Grad an bereits
durchgemachten Infektionen und Eindämmungsmaßnahmen unterscheiden.

Die letzte Welle? Zu erwarten sei, dass die Ansteckungen erst einmal
schnell weiter zunehmen dürften, bevor es zu einer gewissen Sättigung
und dann einem Rückgang komme, sagte Kaderali, der Mitglied des
Expertenrats der Bundesregierung ist. «Die Preisfrage ist, wann die
Ansteckungen auf die Krankenhauseinweisungen durchschlagen.» Der
Vorteil der wohl weniger schwerwiegenden Omikron-Verläufe - wodurch
das Gesundheitssystem höhere Inzidenzen als bisher verkraftet - könne
früher oder später durch die schiere Zahl an Fällen aufgewogen
werden. Ob dann noch einmal mehr Kontaktbeschränkungen nötig sind,
ist für Kaderali noch nicht sicher. «Die Hoffnung ist, dass dies die
letzte große pandemische Welle ist, die wir sehen.»

Welche Inzidenz könnte Deutschland verkraften? Mehrere Experten
wollen sich auf Anfrage nicht festlegen. Kaderali sagte, man könne
auch nicht an einer bestimmten Inzidenzschwelle festmachen, wann
Omikron für die kritische Infrastruktur ernsthaft problematisch wird.
«Es ist nicht so, dass zum Beispiel bei Inzidenz 900 bundesweit noch
alles funktioniert, aber bei 1000 dann nicht mehr.»