Corona-Proteste: Katz und Maus mit «Spaziergängern» Von Verena Schmitt-Roschmann, dpa

Gängelt der Staat die Bürger mit seinen Maßnahmen gegen Corona? Das
Für und Wider treibt Tausende Menschen auf die Straßen. Die Polizei
sieht sich provoziert - und oft auch attackiert. Läuft da etwas aus
dem Ruder?

Berlin (dpa) - Fast jeden Tag jetzt dieses Katz-und-Maus-Spiel, diese
neue Unübersichtlichkeit bei den Corona-Protesten auf Deutschlands
Straßen. Auch am Montagabend waren wieder Zehntausende unterwegs.
Selbst ernannte «Spaziergänger», die sich auf Telegram verabreden,
aber keine Demonstration anmelden. Friedliche Gegner von Impfpflicht
und Corona-Auflagen, die sich zu unrecht mit Rechtsextremisten in
einen Topf geworfen sehen. Gegendemonstranten, die als letzte Bastion
der Vernunft auftreten. Gerät der Rechtsstaat beim Versammlungsrecht
an seine Grenzen im dritten Jahr der Pandemie?

Jörg Radek würde das so nicht stehen lassen. Der Vizechef der
Gewerkschaft der Polizei formuliert es im Gespräch mit der Deutschen
Presse-Agentur lieber so: «Es ist eine polizeiliche Herausforderung,
weil wir sehr kleinteilige Versammlungen haben an unterschiedlichen
Orten, und wir versuchen müssen, gleichzeitig an diesen Orten zu
sein.» Schwierig werde es, «wenn man an einem Tag in Sachsen an 170
Orten gleichzeitig Versammlungen hat». Da müssten sich Landes- und
Bundespolizei gegenseitig helfen.

Die Teilnehmerzahlen bewegten sich an diesem Montag insgesamt im
deutlich sechsstelligen Bereich. Laut einer Schätzung, die auf
Polizeiangaben beruht, waren es sicher weit mehr als 150.000 -
möglicherweise aber noch sehr viel mehr. Allein in Baden-Württemberg
zählte die Polizei 326 Termine und rund 64 700 Teilnehmer. In
Thüringen kamen 21 000 Menschen zu 87 Kundgebungen und Aufzügen. Mal
waren es 1100 in Bitterfeld, mal 1200 in Bautzen. Und so weiter -
längst nicht nur in Ostdeutschland, sondern bundesweit.

Die Veranstaltungen würden immer kleinteiliger, die «Spreizung» mache

es den Behörden immer schwerer, sagte Bundesinnenministerin Nancy
Faeser schon vergangene Woche im Deutschlandfunk. Demonstrieren könne
man in angemeldeten Versammlungen. «Dafür muss ich nicht die
Sicherheitsbehörden versuchen auszutricksen.»

Insbesondere die sogenannten Spaziergänge werden oft nicht
angemeldet, weil sonst Auflagen gemacht werden können, etwa die
Einhaltung von Abständen oder eine Maskenpflicht. Aber könnte man die
Menschen nicht einfach laufen lassen? «Teils wird zunächst wirklich
nur spaziert», räumt Radek ein. «Aber es liegt ja in der Natur des
Versammlungsrechts, dass man signalisieren will, wofür man
demonstriert. Irgendwann kommt der Punkt, wo Parolen gebrüllt
werden.» Er nennt es perfide, dass Corona-Auflagen und der
Infektionsschutz der Beamten bewusst missachtet würden.

«Wir treffen immer mehr gewaltbereite Teilnehmer, das
Aggressionspotenzial steigt», sagt die Rostocker Polizeipräsidentin
Anja Hamann. In der Hansestadt heizte sich die Stimmung auch am
Montagabend auf. Die Polizei meldete Angriffe auf Beamte, fuhr selbst
Wasserwerfer auf und kesselte Demonstranten. Schon in den vergangenen
Wochen wurden immer wieder Polizisten verletzt. «Es wird gespuckt,
körperlich attackiert, die Kollegen werden einer Infektionsgefahr
ausgesetzt, Erwachsene gehen mit Kindern auf ihren Schultern dicht an
die Polizeiketten heran, um zu provozieren», weiß auch Gewerkschafter
Radek.

Schlagen, Spucken, Provokationen mit Kindern: Wer geht da überhaupt
auf die Straße? Die Frage stellt sich seit Monaten immer wieder neu.
Inzwischen häufen sich Warnungen vor einer Unterwanderung durch
Extremisten. Innenministerin Faeser spricht von einer
Instrumentalisierung der Proteste. Diese zielten teils gar nicht auf
die Corona-Maßnahmen, sondern gegen den Staat. Bei einer Berliner
Demo am Montagabend hieß es: «Merkel, Spahn, Steinmeier, Drosten in
den Knast». Ein Redner schimpfte, die «deutschen Medien» seien
«gleichgeschaltet» wie 1933.

Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas
Haldenwang, sieht unter Corona-Demonstranten eine neue Szene von
Staatsfeinden, die Kategorien wie Rechts- oder Linksextremismus
sprengen. «Sie lehnen unser demokratisches Staatswesen grundlegend
ab», sagte Haldenwang der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung».

Zunehmend sei die Polizei Feindbild. «Einsatzkräfte werden nicht nur
bei den Protesten, sondern auch im virtuellen Raum zunehmend
angefeindet und beispielsweise als «Söldner» oder «Mörder des
Systems» diffamiert.»

Mit Extremisten habe man rein gar nichts zu tun, betonten hingegen
die Organisatoren von #friedlichzusammen bei einer Demonstration am
Wochenende in Berlin. Ausdrücklich distanzierten sie sich von «Nazis,
Antisemiten, Holocaust-Leugnern und allen extremistischen
Weltanschauungen». Sie wandten sich gegen Beschränkungen für
Ungeimpfte wie 2G oder 3G und gegen eine mögliche Impfpflicht. Bilder
der Demo zeigten friedliche Menschen in Daunenmänteln. Transparente
warnten aber auch hier vor angeblich manipulierten Medien und einer
angeblichen «Diktatur».

Solche Diktatur-Vergleiche wiederum regen nicht nur die Berliner
Pfarrerin Aljona Hofmann auf. Sie spricht für die Gethsemanekirche,
zu DDR-Zeiten ein Treffpunkt der demokratischen Opposition. «2022 ist
nicht 1989», betonte Hofmann vor einigen Tagen in einem Tweet und
berichtete von Störungen bei Andachten «durch Pöbeleien bis hin zum
Hitlergruß». Am Montagabend mobilisierte die Initiative
Gethsemanekiez nach eigenen Angaben 200 Menschen gegen
«Diktatur-Verharmloser und Corona-Protestler».

Solche Gegeninitiativen gibt es nun vielerorts. In Sachsen gründeten
sich «Bautzen gemeinsam» oder «#Wir lieben Freiberg» gegen
rechtsextreme Proteste. In Jena demonstrierten am Montag Dutzende
Menschen unter dem Motto «Ausspaziert» und trafen auf etwa gleich
viele Gegner der Corona-Maßnahmen. Ähnliche Gemengelage schon am
Wochenende in Freiburg in Baden-Württemberg: Erst 2500 Menschen gegen
Corona-Verharmlosung, dann 6000 Menschen gegen Corona-Impfzwang.

Mittendrin steht die Polizei. «Dass es Demonstrationen und
Gegendemonstrationen gibt, ist kein neues Phänomen», sagt Radek. «Wir

als Polizei müssen erkennen: Wer sind die, die den Staat provozieren
wollen?»