Trauma Kinderkur - Studie sieht Kontinuitäten zum NS-Regime Von Dorothea Hülsmeier, dpa

Hunderttausende Kinder wurden vor allem in den 60er und 70er Jahren
in berüchtigte Kinderkuren geschickt. Anstatt aufgepäppelt zu werden,
kamen viele traumatisiert zurück. Nordrhein-Westfalen hat nun einen
weiteren Schritt bei Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels gemacht.

Düsseldorf (dpa) - Die oft gewalttätige und grausame Erziehungspraxis
in vielen Kinderkurheimen nach dem Zweiten Weltkrieg legt einer
Studie zufolge eine Kontinuität zum nationalsozialistischen Regime
nahe. Das nordrhein-westfälische Sozial- und Gesundheitsministerium
veröffentlichte am Montag eine Studie zur Aufarbeitung des Leids der
sogenannten «Verschickungskinder» nach 1945 im Westen Deutschlands.
Demnach wurden allein in NRW zwischen 1949 und 1990 mehr als 2,1
Millionen Kurkinder wochenlang in Kur- oder Erholungsheime oft an
Nord- oder Ostsee verschickt. Es sind die ersten wissenschaftlich
belastbaren Zahlen für NRW. Für alle Bundesländer der damaligen
Bundesrepublik wird die Zahl der in Kuren verschickten Kinder in
diesem Zeitraum nach unterschiedlichen Berechnungen auf sechs bis
acht Millionen oder sogar auf zwölf Millionen geschätzt.

Die Studie lege offen, dass die Organisation der Erholungs- und
Heilkuren für Kinder in der Weimar Republik aufgebaut und in der
NS-Zeit «an die Ideologie des Regimes angeglichen wurde», teilte das
NRW-Ministerium dazu mit. «Diese Ausrichtung hat in den Folgejahren
nachgewirkt, so dass mentale und personelle Kontinuitäten
fortbestanden.»

Für viele Kinder wurde der Aufenthalt im Kurheim zu einer Tortur, die
sie bis ins Erwachsenenalter traumatisch belastete. Die
Zeitzeugenberichte über Gewalt, Schläge, Essens- und Schlafentzug,
Isolierung und Demütigung werden in der Studie grundsätzlich «als in

hohem Maße glaubwürdig» bezeichnet. Allein das Internetportal
verschickungsheime.de verzeichne inzwischen fast 2000 solcher
Berichte. Bereits eine kursorische Lektüre der Berichte lasse eine
«häufig rigorose, nicht selten auch grausame Erziehungs- und
Verwahrungspraxis während des Kuraufenthalts erkennen».

Die Kurkinder wurden von der Außenwelt abgeschnitten, hatten
Kontaktverbot zu den Eltern, die Post wurde zensiert. Lieblosigkeit,
emotionale Vernachlässigung vor allem kleiner Kinder, körperliche
Züchtigung und vor allem der Essenszwang habe für die betroffenen
Kinder «eine schwere Traumatisierung» bedeutet, heißt es weiter.

In den 60er und 70er Jahren sei die Kinderkur «eine Erfahrung vieler»
gewesen, heißt es in der von Professor Marc von Miquel, Leiter der
Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger in
Bochum, erstellten Studie. «In der kollektiven Erinnerung der
betroffenen Jahrgänge ist auch präsent, dass nicht wenige mit ihrer
damaligen Kur negative Erlebnisse verbanden. Heimweh, autoritärer
Erziehungsstil, stupide Freizeitgestaltung und miserables Essen sind
typische Motive, wenn unter den zwischen 1950 und 1970 Geborenen die
Rede auf die eigene Kurerfahrung kommt.»

Die Frage der NS-Kontinuität sei in der Studie nur an Rande gestreift
worden und sollte weiter erforscht werden, sagte Miguel der Deutschen
Presse-Agentur. Die Kontinuitäten beträfen aber Anschauungen und auch
Personen. So gebe es «brisante Einzelfälle», etwa den Fall des
einstigen Leiters der hessischen Landeskinderheilstätte Mammolshöhe,
Werner Catel. Er war einer der Haupttäter der NS-«Kinder-Euthanasie»

und erprobte 1947 in Mammolshöhe nicht zugelassene Medikamente, bei
denen mindestens vier Kinder starben. Auch in anderen Kinderkurheimen
seien Medikamente erprobt und Todesfälle dokumentiert worden.

Miguels Basisstudie «Verschickungskinder in Nordrhein-Westfalen nach
1945» bereitet bisher bekannte Fakten auf und empfiehlt weitere
Forschungen etwa zu den Medikamentenversuchen in Heimen bis in die
1960er und 1970er Jahre sowie auch zur oft zweifelhaften Rolle von
Kinderärzten bei der massenhaften Verschickung von Kindern.
Zahlreiche Zeitzeugen berichteten über Tees und Tabletten, die ihnen
in der Kur verabreicht wurden, um sie ruhig zu stellen.