«Markt ist leer gefegt» - Kampf der Kliniken gegen Pflegemangel Von Isabell Scheuplein, Sandra Trauner und Sebastian Gollnow

Fast zwei Jahre Corona-Pandemie haben die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter auf den Klinikstationen ausgelaugt. Das Coronavirus traf
auf eine ohnehin schon fragile Personaldecke. Zusätzliche Sorgen
bereitet nun die Omikron-Variante.

Offenbach/Frankfurt (dpa/lhe) - In kompletter Schutzkleidung sind die
Mitarbeiter im abgeschirmten Covid-19-Bereich der Intensivstation im
Einsatz. Manche kleben zusätzlich seitlich ihre Masken ab, um sich
nicht zu infizieren. Die Versorgung der Patienten sei eine sehr
anstrengende Arbeit, sagt Bereichsleiter Schahin Fallah Shirazi. Rund
zehn Covid-19-Patienten liegen derzeit auf der Station des Sana
Klinikums Offenbach, mehr als 200 sind es nach Zahlen der Deutschen
Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin
(Divi) hessenweit.

Auf der Intensivstation der Frankfurter Uniklinik hat die
Corona-Pandemie viele Mitarbeiter an die Grenze ihrer Belastbarkeit
gebracht hat. Pflegedienst-Gruppenleiterin Zeynep Kallmayer berichtet
von Monaten, die konstant «sehr arbeitsintensiv» gewesen seien: «Wir

haben im Prinzip ohne jegliche Regenerationsphase zwischen der
dritten und vierten Welle weitergemacht.»

Waren Pflegekräfte auf dem Arbeitsmarkt schon vor der Pandemie rar,
ist eine ausreichende Personaldecke für die Kliniken nun noch
schwerer erreichbar. In Offenbach geht das Konzept nach Angaben von
Fallah Shirazi derzeit auf: «Wir haben eine sehr stabile
Personalsituation und eine niedrige Fluktuation.» Grundlage sei ein
ganzes Bündel von Maßnahmen.

Schon vor der Pandemie habe man Wert auf familiengerechte
Arbeitszeiten gelegt, etwa für Alleinerziehende oder Mitarbeiter, die
Angehörige pflegten. «Dann schauen wir, dass wir die Dienstpläne so
erstellen, dass die Betreuung gewährleistet ist und gleichzeitig die
Arbeit ermöglicht werden kann», sagt der Bereichsleiter. Es gebe
zudem vielfältige Angebote bei Weiterbildungsinteresse und für
Fachkräfte aus dem Ausland ein Patensystem. Auch Netzwerken sei
immens wichtig, um Mitarbeiter zurückgewinnen zu können.

Insgesamt 180 Pflegekräfte arbeiten auf den drei Intensivstationen
der Klinik. Das Betriebsklima dort sei in der Tat gut, sagt der
stellvertretende Betriebsratsvorsitzende Peter Eichler. Nach fast
zwei Jahren sehr großer Arbeitsbelastung durch die Pandemie wäre für

die Mitarbeiter aber eine Erholungspause dringend nötig.

Auch andere Kliniken in Hessen berichten von umfangreichen Mühen,
Fachkräfte anzuwerben oder intern aus- und weiterzubilden, etwa in
Kassel und Fulda. «Der Markt ist im wahrsten Sinne des Wortes leer
gefegt», erklärt Frank Steibli, Sprecher des Universitätsklinikum
Gießen und Marburg (UKGM), das im vergangenen Jahr Kritik der
Mitarbeiter wegen einer 5000-Euro-Willkommensprämie für neue
Intensivpflegekräfte auf sich gezogen hatte.

Die Fluktuation sei im Vergleich zum Schnitt der Vorjahre gleich,
doch es gebe weniger Neueinstellungen. Die Gewinnung neuer
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sei «insbesondere für die
Intensivpflege und den OP» deutlich schwerer geworden. Das Klinikum
setze bei der Anwerbung auch auf Social Media, Messen und
Schulbesuche und habe die Ausbildung von Pflegekräften verstärkt.

Die Arbeitsbedingungen müssten besser werden, sagt der für Gießen und

Marburg zuständige Verdi-Gewerkschaftssekretär Fabian Dzewas-Rehm:
Bezahlung, Arbeitszeiten und Verlässlichkeit von Dienstplänen. Es
müsse eine ausreichende Zahl von Mitarbeitern eingesetzt werden, um
eine gute Pflege sicherzustellen. Gewerkschaftssekretärin Hilke
Sauthof-Schäfer verweist auf einen Entlastungs-Tarifvertrag, der an
der Berliner Charité erreicht worden sei. Entsprechende Überlegungen
gebe es auch für Hessen.

Der Ärztliche Direktor des Frankfurter Universitätsklinikums, Jürgen

Graf, sieht mehrere grundsätzliche Probleme. Eines sei die
gesetzliche Regelung zur Beschränkung der Arbeitszeit, die
sogenannten Pflegepersonaluntergrenzen. Sie legen fest, wer auf
welcher Station wie viel arbeiten darf. Seit Februar 2021 darf zum
Beispiel auf einer Intensivstation eine Pflegekraft in der Tagschicht
maximal zwei und in der Nachtschicht maximal drei Patienten betreuen.
«Das führt natürlich dazu, dass weniger Betten betrieben werden
können», sagt Graf.

Studien prognostizierten, dass in den nächsten Jahren weit mehr
Pflegende altersbedingt ausschieden als junge Menschen neu in die
Berufe kämen. Um gegenzusteuern, brauche es mehr als Prämien oder
Applaus vom Balkon, sagt Graf: «Wir brauchen vor allem eine andere
Wahrnehmung dieses Berufs. So, wie wir derzeit über Pflege sprechen,
ist das wenig attraktiv.»

«Nach zwei Jahren Pandemie spüren wir die Dauerbelastung der Pflege»,

sagt der Direktor der Hessischen Krankenhausgesellschaft, Steffen
Gramminger. «Es ist schon jetzt alles auf Kante genäht.» Mitarbeiter

hätten gekündigt, ihre Arbeitszeit reduziert oder sich versetzen
lassen - vor allem auf Intensivstationen. Die Omikron-Welle könnte
nun die bestehenden Engpässe verstärken.

Die Krankenhäuser und Kliniken haben Notfallpläne aufgestellt. Im
Sana Klinikum Offenbach liegt nach Angaben von Bereichsleiter Fallah
Shirazi für den Fall personalintensiver Notfallsituationen ein
Leitfaden vor, wie auch Mitarbeiter aus anderen Klinikbereichen auf
der Intensivstation mithelfen können. «Das haben wir in der ersten
Welle schon einmal durchgespielt und uns vorbereitet», sagt er.

Dass auch viele ungeimpfte Patienten auf der Intensivstation liegen,
sei ein emotionales Thema für die Mitarbeiter, sagt der
Bereichsleiter. Denn sie wüssten, dass es sehr viel weniger
Covid-19-Intensivfälle gäbe, wenn mehr Menschen geimpft wären: «Es

müsste nicht die Zahl an Patienten geben, die wir momentan haben.»