) Was bedeutet heute Freiheit? Von Sebastian Fischer, dpa

Was ist in der Corona-Pandemie wichtiger - das Ich oder doch das Wir?
Bei der Antwort muss häufig das Wort Freiheit herhalten. Was darunter
verstanden wird, ist unterschiedlich. Der Versuch einer Annäherung.

Berlin (dpa) - An vielen Orten zeigt sich derzeit ein häufig
wiederkehrendes Bild: Regelmäßig gibt es in Deutschland
Demonstrationen von selbst ernannten Querdenkern und Gegnern der
staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Auf diesen
Versammlungen ist immer wieder das Mantra zu hören: «Friede,
Freiheit, keine Diktatur!» Freiheit - ein großes Wort.

Auf die Straße zu gehen und die eigene Meinung öffentlich kund zu
tun, dazu haben alle Deutschen nach dem Grundgesetz das Recht.
Häufig wird diese Versammlungsfreiheit vom Staat geschützt - indem
etwa die Polizei die Züge begleitet, auf denen Menschen, die unter
Corona leiden, dies nach außen kommunizieren wollen. Allerdings
werden die Aufrufe zur Beteiligung nicht selten von Rechtsradikalen,
Reichsbürgern, religiösen Fundamentalisten und Verschwörungsideologen

initiiert oder zumindest verbreitet. Dabei stehen etwa Rechtsextreme
meist für das Gegenteil all dessen, was eine Demokratie wie die
Bundesrepublik unter Freiheit versteht. Sie propagieren eine
völkische Ideologie, unter der sich jeder und jede unterzuordnen hat.
Hinter manch einer Demo-Forderung nach Aufhebung der Corona-Regeln
verbergen sich zumindest bei einigen Teilnehmern teils größere
Umsturz-Fantasien.

Eine Kleinstpartei, die immer wieder zu Corona-Protesten aufruft,
trägt das bedeutungsschwangere Wort sogar im Namen: Freie Sachsen.
Für den Verfassungsschutz des Freistaates ist sie erwiesen
rechtsextremistisch und verfassungsfeindlich. Die Mitglieder stellten
sich als «Kämpfer für die Freiheitsrechte» hin, so die
Sicherheitsbehörde. «Dabei geht es ihnen nicht um sachliche Kritik am
Staat, sondern um dessen Verächtlichmachung und Delegitimierung.»

Von welcher Freiheit reden wir?

Die österreichische Rechtsextremismus-Expertin Natascha Strobl
attestiert den Corona-Protesten einen «negativen Freiheitsbegriff»,
also «die Freiheit von etwas, nicht die Freiheit zu etwas», wie sie
jüngst in der Tageszeitung «nd» schrieb. Das Streben nach einer
völlig individualisierten Absage an Regeln oder Impfungen überlagere
die klassische Idee einer solidarisch-liberalen Freiheit.

Doch selbst in der Diskussion über jene bewährte Vorstellung scheiden
sich die Geister. Die einen werten die Entfaltung des Einzelnen
höher, die anderen betten diese in die Ansprüche der Gesellschaft
ein. Das Spannungsfeld umschließt also: «meine Freiheit» gegen «dei
ne
Freiheit» gegen die «Freiheit aller».

Vor allem in der Pandemie bricht sich diese Auseinandersetzung schon
seit längerem Bahn. Anders als etwa Leute, die Extremsport betreiben
oder zu häufig zu viel über den Durst trinken, setzen
Corona-Infizierte nicht nur ihre eigene Gesundheit einer Gefahr aus,
sondern als potenzielle Viren-Überträger auch die ihrer Mitmenschen.

Die Frage ist: Wie weit reicht der eigene Spielraum? Der Königsberger
Philosoph Immanuel Kant schreibt schon Ende des 18. Jahrhunderts
dazu: «Ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen,
welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem
ähnlichen Zwecke nachzustreben, (...) nicht Abbruch tut.»

Zwischen Freiheitsrechten und Gesundheitsschutz

Der FDP-Politiker und frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum, der
vielen als liberales Urgestein gilt, beschrieb zuletzt, wie eine
Balance aussehen könnte: «Misstrauen gegen staatliche Eingriffe ist
zwar ein Wesensmerkmal der Liberalen», schreibt er im «Handelsblatt».

Aber Freiheit müsse auch mit Verantwortung einhergehen und das
Gemeinwohl im Auge haben. «Der Tote verliert seine Freiheitsrechte
schließlich unwiederbringlich», so Baum.

«Der Schutz der Gesundheit ist ein hohes Gut, aber das höchste Gut
unserer Verfassung, das ist und bleibt die Freiheit», sagte FDP-Chef
und Bundesfinanzminister Christian Lindner gerade erst auf dem
Dreikönigstreffen der Liberalen. Kritiker werfen ihm vor, mit Sätzen
wie diesen eine Grundrechte-Hierarchie zu postulieren, die es in der
Verfassung gar nicht gebe.

Was steht dort genau? In Artikel 2 des Grundgesetzes heißt es: «Jeder
hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.» Jedoch
auch einschränkend: «soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und
nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz
verstößt.» Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie

die unverletzliche Freiheit der Person werden in diesem
Grundgesetz-Artikel als gleichrangig betrachtet.

Ja, die Menschen in Deutschland müssen und mussten wegen der
Corona-Pandemie harte Einschnitte ertragen: das Treffen mit Freunden
zeitweise verboten, die Schulen geschlossen, Urlaubsreisen gecancelt.
Heute haben Ungeimpfte kaum Chancen, in ein Restaurant zu kommen.
Zutrittsbeschränkungen wie 2G oder 2G plus rufen in Erinnerung: Das
Grundrecht auf freie Entfaltung ist massiv beschnitten. Der Staat
bewertet in bestimmten Situationen den Schutz der allgemeinen
Gesundheit in manchen Punkten höher.

Das Bundesverfassungsgericht, das seit mehr als 70 Jahren über die
Einhaltung des Grundgesetzes und die Durchsetzung der Grundrechte für
die Bürger wacht, hat erst im November entschieden, dass der Bund
während der dritten Pandemie-Welle im Frühjahr Ausgangs- und
Kontaktbeschränkungen verhängen durfte. Die acht Richterinnen und
Richter des Ersten Senats kamen einstimmig zu dem Ergebnis, dass
solche Maßnahmen zwar erheblich in verschiedene Grundrechte
eingriffen, «in der äußersten Gefahrenlage der Pandemie» aber mit d
em
Grundgesetz vereinbar gewesen seien. Denn demnach ist der Staat auch
zum Schutz von Leben und Gesundheit verpflichtet.

Ist jeder seines Glückes eigener Schmied?

Anfang 2022 verliehen Sprachkritiker des Netzprojekts Floskelwolke
den Negativpreis «Floskel des Jahres» an das Wort
«Eigenverantwortung». Der Begriff sei «fehlgedeutet als Synonym für

soziale Verantwortung und gekapert von Impfgegnerinnen und
Impfgegnern als Rechtfertigung für Egoismus».

Auch die Philosophie-Professorin Sabine Döring und der
Wirtschaftsethik-Professor Thomas Beschorner erläutern jüngst bei
«Zeit Online»: Eigenverantwortung betreffe Handlungen, deren mögliche

negative Konsequenzen lediglich das «Eigene» beträfen. «Sobald jedo
ch
andere signifikant negativ von dem eigenen Handeln betroffen sind,
geht es nicht mehr um Eigenverantwortung.» Diese Domäne werde etwa
verlassen, wenn jemand sich selbst nicht schütze, der Gemeinschaft
aber womöglich die Kosten negativer Folgen für das Eigene aufbürde.