Impfpflicht-Debatte: Scholz kommt aus der Deckung Von Michael Fischer, dpa

«Aufbruch und Fortschritt» hat Kanzler Scholz seiner Regierung auf
die Fahnen geschrieben. Bei der von ihm angestoßenen Impfpflicht wird
ihm das Gegenteil vorgeworfen: mangelndes Engagement. In seiner
ersten Bundestagsbefragung versucht er aus der Defensive zu kommen.

Berlin (dpa) - Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich in den vergangenen
Tagen einiges anhören müssen. Fehlende Führungskraft in der
Corona-Pandemie wurde ihm vorgeworfen, mangelndes Engagement beim
Thema Impfpflicht. Er überlasse eine von ihm selbst angestoßene
Debatte alleine dem Bundestag und ziehe die Regierung aus der
Verantwortung.

Als Scholz am Mittwochmittag den Plenarsaal des Bundestags betritt,
macht er sofort deutlich, dass er das nicht auf sich sitzen lassen
möchte. Entschlossen geht er auf diejenigen zu, die ihn zuletzt mit
am heftigsten kritisiert haben: CDU/CSU-Fraktionschef Ralph Brinkhaus
und den designierten CDU-Chef Friedrich Merz. Für seine Verhältnisse
ziemlich gestenreich redet er auf die beiden ein, breitet die Arme
aus, ballt die Fäuste, als wenn er in die laufenden Kameras
signalisieren wollte: Ich bin hier nicht derjenige, der in der
Defensive ist.

So verläuft anschließend auch der zweite große Auftritt des neuen
Kanzlers im Bundestag nach seiner Regierungserklärung im Dezember.
Diesmal ist es ein interaktives Format. Etwas mehr als eine Stunde
haben die Parlamentarier Zeit, ihn zu allen möglichen Themen zu
befragen: vom Ukraine-Konflikt über den Pflegezuschlag bis zu einer
Autobahnbrücke im Sauerland. Aber ein Thema steht klar im
Vordergrund: die Bekämpfung der Corona-Pandemie.

Nach gerade mal fünf Wochen im Kanzleramt ist Scholz ausgerechnet auf
dem Gebiet unter Druck geraten, das er in seiner Regierungserklärung
zur Chefsache erklärt hat. «Dass die notwendigen Maßnahmen
eingeleitet werden, das ist meine Aufgabe, dafür trage ich die
Verantwortung, und das hat meine oberste Priorität», hat er im
Dezember angekündigt. Teilweise mag das bisher gelungen sein. Die
Virusvarianten Delta und Omikron haben in Deutschland bisher für weit
weniger Infektionen gesorgt als in manchem Nachbarland.

Bei einer Maßnahme, die längerfristig von Bedeutung sein könnte, hakt

es aber: bei der allgemeinen Impfpflicht. Scholz hatte die Debatte
darüber Ende November angestoßen und auch gleich dazu gesagt, wann
sie in Kraft treten sollte: «Anfang Februar, Anfang März».

Wer Daten und Zahlen nennt, wird später an ihnen gemessen, das ist
eine einfache Spielregel in der Politik. Das Problem: Scholz hat
ebenfalls schon im November klar gesagt, dass er den Bundestag in der
Pflicht sieht, die Impfpflicht durchzusetzen - und die
Bundesregierung in einer passiven Rolle. Mit anderen Worten: Er hat
den Ball aufs Spielfeld geworfen, ist dann aber an der Seitenlinie
stehen geblieben. Das macht ihm die Opposition jetzt zum Vorwurf und
beklagt mangelnde Führung - wohl wissend, dass Scholz Führungsstärke

als sein Markenzeichen sieht.

Im Bundestag verteidigt der Kanzler am Mittwoch seine Strategie. Er
habe der Debatte eine Richtung gegeben, die Entscheidung müssten aber
die gewählten Abgeordneten in einer offenen Debatte treffen. «Es ist
der richtige Weg für demokratische Leadership», sagt er ein wenig
umständlich, indem er den englischen Begriff für Führung verwendet.


Zu den von ihm ursprünglich genannten Daten für das Inkrafttreten
äußert sich Scholz nicht. An der Stelle hat am Vorabend schon
SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich Druck aus dem Kessel genommen, indem
er einen seit langem von der Opposition geforderten Zeitplan
präsentierte. Ende Januar sollen Eckpunkte für einen Gesetzentwurf
vorgelegt werden. Auf dieser Grundlage soll mit Abgeordneten anderer
Fraktionen über einen gemeinsamen Gruppenantrag gesprochen werden.
Und bis Ende März soll dann die Entscheidung fallen - nicht ganz so
schnell, wie der Kanzler sich das gewünscht hat.

Zu der inhaltlichen Ausgestaltung der Impfpflicht hält sich Scholz
weiter zurück, mit einer Ausnahme: Sie solle nach seinen
Vorstellungen ab 18 Jahren gelten, sagt er.

So richtig angriffslustig wird der Kanzler, als ihn die AfD nach
Nebenwirkungen der Corona-Impfungen befragt und ihm eine Verdrehung
von Fakten vorwirft. «Einen offenen und ehrlichen Umgang mit den
Fakten wünsche ich vor allem Ihnen», hält er dem Abgeordneten Martin

Sichert entgegen. «Halten Sie sich an die Fakten, verwirren Sie nicht
die Bürger, schützen Sie die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger.
»

Die AfD hatte zum Auftakt der Rede von Scholz gegen die verschärften
Corona-Regeln im Bundestag protestiert, die einen Zugang zum
Plenarsaal nur noch mit Test oder Booster-Impfung erlauben. Mehrere
Abgeordnete zeigten Plakate mit der Aufschrift «Freiheit statt
Spaltung». Scholz hält ihnen entgegen, was er schon in seiner
Neujahrsansprache gesagt hat: «Unser Land ist nicht gespalten,
sondern hält zusammen.»

Beim Thema Impfen dürfte die Opposition Scholz auch künftig unter
Druck setzen. Denn nicht nur bei der Impfpflicht könnte es zu
Verzögerungen kommen, sondern auch bei zwei weiteren Zielen, die
Scholz ausgegeben hat.

- Mitte November hatte der Kanzler 30 Millionen Impfungen bis Ende
des Jahres angepeilt und die Marke am 26. Dezember erreicht. Bis Ende
Januar sollen nun 30 Millionen weitere Impfungen folgen. Nur geht es
jetzt nicht mehr ganz so schnell wie im vergangenen Jahr. Bis
einschließlich Montag waren nur 7,3 von den 30 Millionen Impfungen
geschafft, und es bleiben nur noch drei Wochen. Im Durchschnitt
müssten also pro Tag weit mehr als eine Million Dosen gespritzt
werden, um ans Ziel zu kommen. Das gab es bisher aber an keinem
einzigen Tag in diesem Jahr. Scholz blieb im Bundestag bei der
Zielsetzung. Die Anstrengungen müssten noch einmal verstärkt werden,
sagt er. «Denn es macht einen Unterschied, ob man sich erst im März
impfen lässt oder es jetzt schon tut.»

- Noch weiter weg ist Scholz von seinem Ziel, bis Ende Januar eine
Impfquote von 80 Prozent bei den Erstimpfungen zu erreichen. Dafür
müssen sich noch etwa 4,4 Millionen Ungeimpfte zum ersten Mal
immunisieren lassen. In den ersten zwei Wochen nach Weihnachten waren
es aber nur wenige Zehntausend pro Tag, zusammen etwas mehr als
600 000.

Sollte Scholz die letzten beiden Ziele nicht bis Ende Januar
erreichen, könnte ihm das aber beim Erreichen des ersten Ziels - der
Impfpflicht - helfen. Denn mangelnder Impffortschritt ist das beste
Argument der Befürworter einer solchen Pflicht.