Deutschlands verzögerte Omikron-Wand - Städte besonders betroffen Von Annett Stein, dpa

Zu den Eigenheiten Omikrons gehört, dass zunächst die Städte heftig
betroffen sind. Das zeigte sich in London und Kopenhagen ebenso wie
nun auch in Bremen, Hamburg und Berlin. Impfquoten spielen für die
Ausbreitung kaum eine Rolle - an anderer Stelle aber eine große.

Berlin (dpa) - Die Corona-Zahlen steigen auch in Deutschland
deutlich, doch verglichen mit den schon hohen Omikron-Mauern
benachbarter Länder baut sich die Infektionswelle später auf - warum?
Die größte Rolle spielen wahrscheinlich die Schutzmaßnahmen, wie der

Immunologe Carsten Watzl der Deutschen Presse-Agentur (dpa) sagte.
Die Delta-Welle sei gerade gebrochen, die ihretwegen verschärften
Maßnahmen aber noch gültig und weiter wirksam gewesen, als Omikron im
November gekommen sei.

In den sehr rasch extrem betroffenen Ländern Großbritannien und
Dänemark hingegen habe es zu der Zeit kaum noch Beschränkungen
gegeben, das Verhalten der Bevölkerung sei der Normalität am nächsten

gewesen, ergänzte Modellierer Dirk Brockmann von der
Humboldt-Universität Berlin.

Generell spiele die Reaktion der Menschen eine sehr große Rolle,
erklärte Christine Falk von der Medizinischen Hochschule Hannover.
Die Bevölkerung hierzulande habe ihr Verhalten offensichtlich rasch
an Omikron angepasst und sich vorsichtiger verhalten - und damit zum
bisherigen Ausbleiben der Wand beigetragen. «Das Handeln jedes
Einzelnen fließt in die Gesamtlage ein», betonte die Präsidentin der

Deutschen Gesellschaft für Immunologie (DGfI).

Dem Epidemiologen Hajo Zeeb zufolge war zumindest anfangs vermutlich
auch von Bedeutung, wie viele Fälle eingeschleppt wurden -
schließlich bildeten sie die Basis, aus der sich die Welle aufbaue.
Inzwischen spielten solche Einträge keine Rolle mehr für das
Infektionsgeschehen, betonte Brockmann. «Es gibt ein verzerrtes Bild,
was die Rolle der Mobilität angeht, wenn das Virus ohnehin schon
überall verteilt ist.» Die Ausweisung von Hochrisikogebieten mache
keinen Sinn mehr. «Die ganze Welt ist ein Hochrisikogebiet.»

Kaum Effekt speziell auf die Infektionsdynamik hat den Experten
zufolge auch die Impfquote. Die Grundimmunisierung wirke sich bei
Omikron fast gar nicht, auch der Booster nur sehr wenig auf diesen
Aspekt aus, sagte Brockmann der dpa. «Charakteristisch für Omikron
ist, dass es sich so verbreitet, als wäre die Bevölkerung nicht
geimpft. 2G ist da wie null G.» Darum sei es auch nicht
verwunderlich, dass die Fallzahlen auch in Gegenden mit
vergleichsweise hoher Impfquote wie Bremen hochschießen.

Für das Ansteckungsrisiko des Einzelnen hat der Booster vor allem in
der ersten Zeit nach der Impfung durchaus Bedeutung: Der Virologe
Christian Drosten von der Berliner Charité verwies kürzlich etwa auf
dänische Studiendaten, die zeigten, dass die Auffrischungs-Impfung
das Risiko für eine Omikron-Ansteckung merklich senke.

Bei den hohen Fallzahlen in Bremen sieht DGfI-Präsidentin Falk auch
eine psychologische Komponente: Wegen der dortigen Spitzenquote bei
den Impfungen hätten die Menschen gedacht und von der Politik auch
vermittelt bekommen, sie könnten es nun lockerer angehen lassen.
«Doch dann kam Omikron.» Und zwischen den Ansteckungs- und
Weitergaberisiken von Delta und Omikron lägen nun einmal Welten. In
Bremen und etwa auch in Schleswig-Holstein, wo vor und zu den
Feiertagen noch die Discos offen gewesen seien, habe das zu
Superspreader-Events und in der Folge den nun so hohen Inzidenzen
dort geführt.

Als eine Besonderheit von Omikron führt Modellierer Brockmann an,
dass sie zunächst meist urbane Regionen ausgesprochen heftig trifft.
«London ist derzeit extrem viel stärker betroffen als die ländlichen

Gegenden Großbritanniens.» In Dänemark konzentriere sich der Anstieg

auf Kopenhagen, eine ähnliche Entwicklung sei auch in Deutschland zu
erkennen - derzeit etwa in Bremen, Hamburg und Berlin. Generell gebe
es Faktoren, die in Städten eine überproportional zur
Populationsdichte steigende Fallzahl begünstigten - mehr Besuche in
Kino, Museum oder Restaurant als auf dem Land zum Beispiel und damit
mehr Kontakte in Innenräumen. «Das kommt bei Omikron ganz besonders
stark zum Tragen.»

Letztlich sei aber nicht nur für die Städte klar: «Die Wand kommt
verzögert, aber sie kommt.» Anfangs, bei kleineren Fallzahlen, lasse
sich die Entwicklung kaum voraussagen - wie bei einem kleinen, immer
mal aufflackernden und wieder nachlassenden Feuer. Ab einem
bestimmten Punkt aber gehe es nur noch steil bergauf, sagte
Brockmann. «Wenn es einmal lodert, dann lodert's.»

DGfI-Präsidentin Falk hofft, dass die Menschen weiter mit großer
Vorsicht agieren und sich die Wand zumindest zur Welle reduzieren
lässt. «Wir haben Omikron besser unter Kontrolle als andere, es ist
machbar, dass uns die Zahlen nicht so sehr entgleiten wie anderen
Ländern.» Im öffentlichen Raum eine FFP2-Maske zu tragen, sei eine
der wirksamen Maßnahmen dafür.

«Wir werden Inzidenzen von deutlich über 1000 bekommen - im
Bundesdurchschnitt, regional auch deutlich darüber», ist Watzl,
Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie,
überzeugt. «Im Februar könnte der Höchststand erreicht sein.» Das
ist
noch viel zu weit weg vom Frühling, als dass der saisonale Rückgang
einen mildernden Effekt bringen könnte.

«Der einzige Vorteil der verzögerten Omikron Welle bei uns ist, dass
wir mehr Zeit für die Impfungen haben», erklärte Watzl. Denn auch
wenn die Impfquote für die Ausbreitung nicht entscheidend ist - für
die Belastung der Kliniken ist sie das. «Wenn Omikron auch bei uns zu
70 Prozent weniger Krankenhauseinweisungen im Vergleich zu Delta
führen würde, hätten wir bei einer Inzidenz von 1500 wieder die
gleiche Belastung wie bei der vierten Welle.»

Derzeit baut sich die Wand regional - in Bremen, Schleswig-Holstein
und Hamburg etwa - schon «sehr schnell und sichtbar auf», wie Zeeb
vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in
Bremen sagte. Auch bundesweit gebe es mit dem rasanten Anstieg der
7-Tage-Inzidenz «vielleicht keine Wand, die plötzlich da ist, aber
doch eine steile Welle». Die kommenden 10 Tage - auch mit dem
Schulanfang in vielen Bundesländern - werden seiner Meinung nach
zeigen, ob ähnliche Höchststände wie in anderen Ländern drohen.

Für noch nicht geimpfte Menschen werde es zunehmend eng, betonte
Falke. «Sie sind für Omikron wie ein Elfmeter ohne Torwart.»