Ethikratvorsitzende Buyx: Wir müssen weg von der Lust an der Empörung Interview: Martina Herzog und Verena Schmitt-Roschmann, dpa

Allgemeine Impfpflicht gegen Corona? Eine extrem schwierige Frage,
sagt die Ethikratsvorsitzende Alena Buyx. Und appelliert an alle:
«Macht's euch nicht zu leicht.»

Berlin (dpa) - Nach zwei Jahren Corona blickt die Vorsitzende des
Deutschen Ethikrats, Alena Buyx, überraschend optimistisch auf die
Lehren der Pandemie. Den Menschen in Deutschland bescheinigt sie im
Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur eine «große gemeinsame
Leistung» im Umgang mit dem Schlamassel. Doch übt die Münchner
Professorin auch Kritik - und Selbstkritik.

Frage: Der Ethikrat hat seit Beginn der Pandemie so viele
Empfehlungen veröffentlicht wie selten zuvor. Wirft die Corona-Krise
neue ethische Fragen auf - oder rückt sie ethische Fragen nur stärker
ins Scheinwerferlicht?

Antwort: Vor allem letzteres. Das sind Fragen, die teils seit
Jahrtausenden diskutiert werden. Wie können Belastungen in einer
Krise gerecht verteilt werden? Wie können individuelle Freiheiten
möglichst gut ausgelebt und geschützt werden im Rahmen eines guten
gesellschaftlichen Zusammenlebens? Ethik ist überall, nur in einer
solchen Krisensituation fällt das eben besonders auf. Viele
Ethikerinnen und Ethiker gingen daher von Anfang an davon aus: Da
wird noch einiges kommen.

Frage: Zum Beispiel die Einsicht, wie abhängig wir vom Verhalten
anderer sind.

Antwort: Diese Erfahrung haben viele gemacht, ja. Unabhängigkeit,
Selbstbestimmung, persönliche Freiheit der Lebensgestaltung, das sind
ganz wichtige Prinzipien, die ja zentral in Demokratie und
Rechtsstaat verankert sind. Wir wollen, dass Menschen möglichst
selbstbestimmt leben können, und persönliche Freiheiten sind mit
gutem Grund sehr stark geschützt. Das gilt natürlich für die
Freiheiten aller Bürger gleichzeitig - individuelle Freiheiten
berühren einander sozusagen. Und entsprechend können individuelle
Freiheiten auch eingeschränkt werden, aber eben immer nur mit guter
Begründung.

Mit der Pandemie ist es auf einmal sehr offenkundig geworden, wie
sehr wir alle trotz unserer individuellen Selbstbestimmung gemeinsam
in einem oft unsichtbaren, komplexen Netz gesellschaftlicher
Zusammenhänge und Abhängigkeiten leben. Mein Verhalten kann direkte
Effekte auf das Leben, die Selbstbestimmung anderer haben und
umgekehrt. Wenn man eher individualistisch geprägt ist, kann das eine
starke Verunsicherung bedeuten festzustellen, wie sehr wir
voneinander abhängig sind, ob uns das gefällt oder nicht.

Frage: Welche Einsichten werden bleiben von dieser Pandemie?

Antwort: Das ist eine große Frage. Zum einen hat sich gezeigt, wie
stabil unsere Gesellschaft ist, wie insgesamt vernünftig. Ich finde
das immer wieder erstaunlich: Seit zwei Jahren stecken wir zusammen
in diesem verdammten Schlamassel, leben in einer plötzlich und
deutlich veränderten Realität. Aber die Leute stehen jeden Morgen
auf, leben ihren veränderten Alltag, machen ihr Ding weiter, halten
sich an die Regeln, auch wenn es nervt, informieren sich, leisten
ihren Beitrag, im Großen wie im Kleinen. Das empfinde ich als eine
große gemeinsame Leistung, und mich erfüllt das mit Zuversicht und
Optimismus.

Zweitens: Es hat auch große Innovationsschübe gegeben. Wir haben
natürlich vor allem gelernt, was alles nicht funktioniert und wo wir
besser werden müssen: In Digitalisierung, Verwaltung, Schulwesen, zum
Beispiel. Daraus muss gelernt werden. Aber es wird viel weniger
gesprochen darüber, was sich gleichzeitig im Positiven beschleunigt
oder verbessert hat, zum Beispiel neue Formen des Arbeitens. Wenn wir
alle mal wieder durchatmen können und weiter denken, dann wird sich
daraus viel Schubkraft ziehen lassen.

Der dritte Punkt ist, dass wir die Grundlagen unserer Demokratie
verteidigen müssen, den Glauben an die demokratischen Institutionen,
an die Wissenschaft, an jene, die uns im Alltag schützen, etwa
Feuerwehr, Personal im Notdienst, Polizisten. Wir müssen der
grassierenden Entgrenzung begegnen. Gewalt ist die schlimmste
Ausprägung davon, aber es gibt auch Hetze, Verleugnung, Diffamierung.
Wir können das alles nicht einfach geschehen lassen. Ich war
überrascht vom Ausmaß an Hass, Wut und Aggression, die sich
entwickelt haben.

Frage: Auch der Ethikrat musste sich in der Pandemie revidieren, ob
nun bei der allgemeinen Impfpflicht, oder bei 2G-Regelungen - also
Zutritt nur für Geimpfte und Genesene -, die Sie im Sommer noch
kritisch kommentiert haben. Hat das der Glaubwürdigkeit geschadet?

Antwort: Das muss ich direkt korrigieren. Wir haben schon sehr früh
gesagt, dass Maßnahmen verhältnismäßig sein müssen, an der aktuel
len
Situation orientiert und differenziert. Als die Inzidenz relativ
niedrig war, ließ sich daraus ableiten, dass aus ethischer Sicht 3G
besser ist als 2G, weil es mehr gesellschaftliche Teilhabe für alle
ermöglicht. Je schlechter die Corona-Situation wurde, desto klarer
wurde auch: Wenn man vermeiden will, dass das Gesundheitssystem
überlastet wird, dann kommt man nicht umhin, jene stärker in die
Pflicht nehmen, die das deutlich höhere Risiko haben, sich
anzustecken und mit einem schweren Verlauf ins Krankenhaus zu müssen
- bevor man alle anderen auch einschränkt. Das war also keine
Korrektur, das ergab sich aus dem, was wir formuliert hatten.

Anders war es bei der allgemeinen Impfpflicht. Eine undifferenzierte
allgemeine Impfpflicht hatten wir vor einem Jahr tatsächlich
abgelehnt. Deshalb haben wir in unserer aktuellen Empfehlung nun sehr
ausführlich begründet, warum wir uns das noch einmal neu anschauen
müssen.

Frage: In der Öffentlichkeit blieb der Eindruck eines Hin und Her der
Wissenschaft.

Antwort: Aber so funktioniert Wissenschaft. Man muss ja immer
schlauer werden, also dazulernen und auf veränderte Situationen und
Voraussetzungen reagieren. Es wäre unverantwortlich, wenn man blind
festhielte an etwas, was man in einer völlig anderen Situation gesagt
hat. Vor elf Monaten gab es noch nicht die Virusvarianten Delta oder
Omikron. Man wusste nicht, dass man viel höhere Impfquoten brauchen
würde als ursprünglich angenommen. Und man konnte zweitens schon
davon ausgehen, dass sich viel mehr Menschen impfen lassen. Ich
persönlich dachte ganz ehrlich, wenn das Mittel zur Verfügung steht,
diese ganze Misere hinter uns zu lassen, dann nimmt man das. Das
waren also zwei Dinge, die sich verändert beziehungsweise nicht
bestätigt haben.

Man hört jetzt gelegentlich, dass veränderte Positionierungen zur
Impfpflicht einen «Wortbruch» bedeuten. Das halte ich für falsch,
insbesondere mit Blick auf wissenschaftliche Analyse. Man muss lernen
und Positionen immer wieder überprüfen. Das ist das Wesen der
Wissenschaft.

Frage: Ist die Wissenschaft in einigen Punkten einfach so
kompliziert, dass man sie in der Öffentlichkeit nicht richtig
erklären kann?

Antwort: Die eine Wissenschaft gibt es ja nicht, aber man kann
wissenschaftliche Sachverhalte erklären, und das gelingt ja auch
vielen ganz hervorragend. Nur gibt es eben diese ständige
Neuüberprüfung in der Wissenschaft und natürlich auch eine
Vielstimmigkeit, das kann in der Öffentlichkeit schon verwirrend
sein. Da müssen wir innerhalb der Wissenschaft noch weiter überlegen,
wie man das gut machen kann.

Das ist aber nur die eine Seite. Es geht auch darum, wie mit
wissenschaftlichen Informationen in den Medien umgegangen wird. Von
einem langen, differenzierten Gespräch bleibt manchmal am Ende nur
eine Schlagzeile übrig. Ich verstehe, dass man eine Schlagzeile
braucht, aber das ist ein echtes Problem, diese Verknappung.
Wissenschaft ist oft zu komplex für eine Zeile. Deswegen würde ich
mich über neue Ideen freuen, wie man Wissenschaft verantwortlich,
vielleicht auch anders kommunizieren kann. Wichtig ist aber auch: Das
Vertrauen in die Wissenschaft hat laut Umfragen vor allem am Anfang
der Pandemie deutlich zugenommen und ist immer noch deutlich größer
als vorher.

Frage: Die 20-seitige Stellungnahme des Ethikrats zur Impfpflicht
liest sich wie das Ergebnis einer sehr schwierigen Diskussion. Erst
ganz am Ende geht es um die Positionierungen für die Impfpflicht.

Antwort: Es ging uns tatsächlich weniger um die Positionierung. Uns
ging es um eine Orientierung, eine Handreichung für die
Argumentation. Der Bundestag wird ohne Fraktionszwang über die
Impfpflicht entscheiden, das wird für die Abgeordneten eine
Gewissensfrage. Wir wollten mit dieser Empfehlung, die sich intensiv
mit den Argumenten befasst, eine Gewissensschärfung befördern. Die
letztliche Positionierung und Ausgestaltung ist Aufgabe und
Verantwortung der Politik.

Es geht bei der Impfpflicht ja um eine Einschränkung der körperlichen
Selbstbestimmung. Die ist ein hohes Gut, das müsste also sorgfältig
überlegt werden. Es gibt gute Argumente sowohl für als auch gegen
eine Impfpflicht. Das transparent zu machen und ernsthaft zu
diskutieren, das ist unser Job.

Am Ende stehen dann zwei unterschiedliche Vorschläge für eine
Ausweitung der Impfpflicht, weil sich diese Argumente unterschiedlich
abwägen lassen und weil man verschiedene empirische Annahmen zur
Impfpflicht treffen kann. Verkürzt gesagt gehen die einen davon aus,
dass eine Impfpflicht für Risikogruppen ausreiche und eine Ausweitung
auf weitere Gruppen nicht angemessen wäre. Und die anderen sagen, das
reiche nicht und halten daher eine breitere Ausweitung für
gerechtfertigt.

Frage: Welchen Umgang erhoffen Sie sich mit dem Papier?

Antwort: Es wäre schön, wenn sich die Abgeordneten die Argumente
anschauen. Es ging uns darum zu sagen: Liebe Politiker, Ihr müsst das
am Ende entscheiden, das nehmen wir euch nicht ab. Aber hier sind die
Dinge, über die man bei dieser Entscheidung nachdenken muss. Wir
haben beispielsweise auch deutlich gemacht, dass eine Impfpflicht
nicht allein stehen dürfte, sondern flankiert werden muss, etwa mit
guter Information, Beratung und noch mehr niedrigschwelligem Impfen.
Es ist ein wirklich schwieriges Thema und ich hoffe, diese ehrliche
Auseinandersetzung damit ist für die Verantwortlichen hilfreich.

Frage: Die Impfpflicht könnte unterschiedliche Auswirkungen haben auf
das gesellschaftliche Klima, wie Sie in Ihrer Stellungnahme
schreiben. Sie könnte die Radikalisierung verstärken, vielleicht aber
auch etwas Luft aus der Diskussion lassen.

Antwort: Ja, vielleicht sogar beides gleichzeitig. Radikalisierung
passiert ja nun schon seit einiger Zeit, entlang der
Corona-Maßnahmen. Das ist leider nichts Neues. Genauso, wie es eine
stärkere Radikalisierung geben könnte, gehen Experten aber auch davon
aus, dass die Impfpflicht gesellschaftlich befrieden und Konflikte
dämpfen könnte. Eine solche Pflicht könnte manchen impfskeptischen
Menschen die Entscheidung erleichtern, und es müsste kein moralischer
Druck mehr aufgebaut werden, weil für alle Betroffenen die gleichen
Regeln gelten.

Die Frage des Impfens hat zum Teil auch stellvertretenden Charakter:
Da geht es ja bereits jetzt manchmal eher um das Verhältnis zum
Staat, dem Übergriffigkeit unterstellt wird, bis hin zum Bemühen, die
Institutionen der Demokratie selbst anzugreifen und verächtlich zu
machen.

Frage: Wie sollte die Politik damit umgehen?

Antwort: Wir empfehlen, beim Thema der Impfpflicht Sachlichkeit zu
befördern. Es ist ganz wichtig, dass Erzählungen von Konfrontation
nicht noch verstärkt werden. Das Gespräch über diese Maßnahme muss

weg von einer moralisierenden Gegenüberstellung von «Wir gegen euch»,

«Die Mehrheit gegen die Verweigerer» oder was auch immer. Es muss um
Gründe, um Argumente gehen.

Es muss möglich sein, auch nach zwei Jahren Pandemie und in einer
aufgeheizten öffentlichen Stimmung, vernünftig über diese schwierigen

Fragen zu diskutieren. Wir müssen wegkommen von der Lust an der
Empörung und an der Verknappung. Wir müssen uns wieder mehr zuhören.

Das heißt nicht, dass man Radikalisierung akzeptiert oder Angriffe
auf unsere demokratischen Grundfesten, im Gegenteil. Aber dort, wo
man ernsthaft überlegt und argumentiert, gilt für alle: Macht's euch
nicht zu leicht. Das ist wirklich ein sehr schwieriges Thema.

Frage: Kann man wirklich jeden gewinnen für eine sachliche Diskussion
über Corona-Maßnahmen und Impfpflicht?

Antwort: Ich glaube, prinzipiell sind alle Menschen Gründen und
Argumenten zugänglich, aber vielleicht nicht alle gerade jetzt.
Psychologen und Sozialwissenschaftler sagen, einige sind im Moment zu
diesem Thema nicht wirklich erreichbar. Aber um alle anderen muss man
sich sehr ernsthaft bemühen. Ich bin insgesamt zuversichtlich, dass
man mit guten Argumenten, guter Begründung und guter Kommunikation
sehr viel erreichen kann. Das ist letztlich der Königsweg, gerade
auch in der Politik.

Frage: Das Verfassungsgericht hat der Politik aufgegeben, sich mit
der Frage von Triage zu befassen, also der Frage, wie Entscheidungen
über die Versorgung von Patienten bei knappen medizinischen
Ressourcen zu treffen sind. Sollte die Tatsache, ob jemand geimpft
ist oder nicht, dabei eine Rolle spielen?

Antwort: Wir haben das im Ethikrat nicht verhandelt, deswegen als
Medizinethikerin: In der Medizin gilt insgesamt kein Verursacher-
oder Schuldprinzip. Bei der Vergabe knapper medizinischer Ressourcen,
wenn es um Leben und Tod geht, sollte daher der Impfstatus keine
Rolle spielen. Die medizinischen Fachgesellschaften empfehlen
stattdessen die unmittelbare Überlebenswahrscheinlichkeit.

Frage: Die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Geimpften dürfte aber
höher sein als die eines Ungeimpften.

Antwort: Indirekt spielt das in der klinischen Situation eine Rolle,
ebenso wie beispielsweise das Alter. Die Überlebenswahrscheinlichkeit
eines 20-Jährigen ist im Schnitt deutlich besser als die eines
80-Jährigen. Aber auch Alter darf kein unabhängiges Kriterium sein,
also kein Ausschlusskriterium für die Versorgung. Es gibt topfitte
80-Jährige, die eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit haben als
manche 20-Jährige. Und es wird auch die Situation geben, dass ein
ungeimpfter 20-Jähriger eine bessere Prognose hat als der geimpfte
80-Jährige. Das hängt von ganz individuellen Faktoren ab.

ZUR PERSON: Alena Buyx (44) hat Medizin, Philosophie und Soziologie
studiert und in Deutschland, Großbritannien und den USA studiert und
gelehrt. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind ethische Fragen von Medizin,
Forschung und öffentlicher Gesundheit. Buyx ist seit 2016 Mitglied
des Deutschen Ethikrats und seit 2020 dessen Vorsitzende. Die
Sachverständigen des Ethikrats erarbeiten unter anderem
Stellungnahmen für die Politik etwa zu medizin- oder bioethischen
Fragen.