Die stille Epidemie: Amerikas Drogenkrise wütet wie nie zuvor Von Can Merey, dpa

Die Corona-Pandemie hat die Opioid-Krise in den USA verschärft, die
Zahl der Drogentoten ist förmlich explodiert. Das Epizentrum ist der
Bundesstaat West Virginia, wo die katastrophalen Auswirkungen alle zu
spüren bekommen - von Neugeborenen bis zu Urgroßeltern.

Charleston (dpa) - Mike Stuart trägt stets eine Brieftasche mit einem
Packen Porträtfotos bei sich. «Diese Bilder verfolgen mich nachts»,
sagt der frühere Bezirksstaatsanwalt in Charleston, der Hauptstadt
des US-Bundesstaats West Virginia. Die Fotos zeigen junge
Amerikanerinnen und Amerikaner. In diesen Momentaufnahmen scheinen
sie vor Lebensfreude zu sprühen. Sie alle sind tot, alle gestorben an
einer Überdosis Drogen. West Virginia ist das Epizentrum der
Opioid-Epidemie in den USA - Stuart spricht vom «Ground Zero». «Es
gibt keine Familie, keine Straße, keine Kirche, keine Schule, kein
Dorf, keine Stadt, die nicht massiv davon betroffen wären», sagt er.

In den USA stirbt inzwischen ungefähr alle fünf Minuten ein Mensch an

einer Überdosis Drogen. Zwischen April 2020 und April 2021 - während

der Corona-Pandemie - wurden erstmals mehr als 100 000 Todesopfer in
einem Jahr verzeichnet, wie die US-Gesundheitsbehörde CDC kürzlich
mitteilte. Verglichen mit dem Vorjahreszeitraum nahm die Zahl um mehr
als 28 Prozent zu. Zum Vergleich: In Deutschland wurden 2020
insgesamt 1581 «drogenbedingte Todesfälle» registriert (plus 13
Prozent), wobei dort anders als in den Vereinigten Staaten
Langzeitfolgen von Drogenkonsum als Ursache mitgezählt werden. Bei
einer rund vier Mal so großen Bevölkerungszahl verzeichneten die USA
also mehr als 60 Mal so viele Drogentote wie Deutschland.

Vom Schmerzmittel zum Heroin

Rund drei von vier dieser Toten in den USA starben an einer Überdosis
Opioide. Dazu zählen nach CDC-Definition natürliche Opiate wie
Heroin, aber auch synthetische Substanzen wie Oxycodon. In den
1990er-Jahren drängte die inzwischen berüchtigte Firma Purdue Pharma
mit ihrem Oxycodon-Schmerzmittel Oxycontin auf den Markt - es war der
Urknall für die derzeitige Krise. Purdue gab das Suchtpotenzial von
Oxycontin fälschlicherweise als niedrig an.

Während Oxycodon in Deutschland unter das Betäubungsmittelgesetz
fällt, verschrieben Ärzte in den USA die Mittel selbst bei moderaten
Schmerzen freizügig. Patienten wurden massenweise abhängig. Wenn sie
Oxycodon nach der Behandlung nicht mehr auf Rezept bekamen, besorgten
sie es sich oft auf dem Schwarzmarkt, wo sie mit der Zeit auf eine
billigere Alternative auswichen: Heroin. Inzwischen strecken Dealer
Heroin und andere Drogen häufig mit Fentanyl. Dieses synthetische
Opioid kommt nach Angaben der Drogenbekämpfungsbehörde DEA (Drug
Enforcement Administration) vor allem aus Mexiko und China in die USA
und ist erheblich stärker als Heroin, was das Risiko einer tödlichen
Überdosis noch einmal deutlich erhöht.

Gigantische Gewinne für die Pharmaindustrie

In den Jahren nach der Markteinführung der Opioid-Schmerzmittel
fuhren Purdue und andere Pharma-Konzerne sowie skrupellose Ärzte
riesige Gewinne ein. Purdue wurde vorgeworfen, das Suchtpotenzial
verschleiert zu haben. Mehrere Unternehmen mussten sich vor Gericht
verantworten - immer noch laufen etliche Klagen. Inzwischen werden
Opioide viel restriktiver verschrieben. Die einstige Praxis hat nach
Ansicht von Experten aber den Boden für die derzeitige Drogenkrise
bereitet, die die USA nicht in den Griff bekommen.

Neugeborene mit Entzugssyndromen

«Es gibt keine Bevölkerungsgruppe, die nicht betroffen ist», sagt
Stuart, der heute Partner in einer Anwaltskanzlei in Charleston ist.
Schwarze und Weiße, Reiche und Arme - in West Virginia habe die Sucht
vor niemandem Halt gemacht. «Das Ergebnis war, dass überall Zombies
herumliefen.» Der Bundesstaat, der zu den ärmsten in den USA zählt,
führt die Überdosis-Statistik schon lange an. Nach CDC-Daten kommen
in West Virginia mehr als 85 Drogentote auf 100 000 Einwohner.

Eine andere Statistik lässt ebenfalls das Elend erahnen, das Opioide
in der Region verursachen: Nach offiziellen Angaben kamen in West
Virginia im Jahr 2017 mehr als fünf von 100 Neugeborenen mit einem
sogenannten neonatalen Abstinenzsyndrom zur Welt. Sie litten unter
Entzugssymptomen, weil die Mutter in der Schwangerschaft Drogen nahm.

Urgroßeltern ziehen Kleinkinder groß

Wie die Sucht Familien in West Virginia zerstört, erlebt Joanna Tabit
täglich. Die Richterin aus Charleston schätzt, dass 70 Prozent ihrer
Verfahren sich inzwischen um Misshandlung oder Vernachlässigung von
Kindern drehen. Drogenmissbrauch spiele in den allermeisten dieser
Fälle eine Rolle. Vernachlässigte Kinder würden der Obhut der Eltern

entzogen und bei Verwandten oder in Pflegefamilien untergebracht.
Angehörige hätten jedoch oft selbst Drogen- oder andere Probleme. Das
System der Pflegefamilien in West Virginia sei angesichts der Masse
der Fälle völlig überfordert. «Wir haben Urgroßeltern, die
Kleinkinder aufziehen», sagt Tabit. «Es ist tragisch.»

Die Richterin sagt, Eltern ihre Kinder zu entziehen, das sei der
schwierigste Teil ihrer Arbeit. Herzzerreißend sei aber auch, wenn
süchtige Eltern ihre Kinder freiwillig weggäben. «Im Grunde sagen
sie, ich liebe meine Drogen mehr als meine Kinder.» Tabit befürchtet,
dass eine Generation heranwächst, für die Drogenkonsum zur Normalität

gehört. «Ich sehe fünfjährige Kinder, die beobachtet haben, wie ihr
e
Eltern Drogen nehmen, und die wissen, wie man Drogen nimmt.»

Wenn der Sohn nicht mehr aufwacht

Stacie Archer hat ihren Sohn Joel an die Opioide verloren. Joel ist
auch auf einem jener Fotos zu sehen, die Ex-Staatsanwalt Stuart immer
bei sich hat - einige davon hat er beim Gespräch in seiner Kanzlei
vor sich ausgebreitet. Die Aufnahme zeigt einen jungen Mann in Anzug
und mit Krawatte, der in die Kamera lächelt. Archer sagt, ihr Sohn
habe erst Marihuana geraucht und dann andere Drogen ausprobiert. Die
Straßen seien damals mit Pillen «geflutet» gewesen. Irgendjemand habe

ihm ein Schmerzmittel gegeben, das für tödlich erkrankte
Krebspatienten gedacht sei. «Und das wurde zur Droge seiner Wahl.»
Bei 170 Dollar (150 Euro) pro Pille wurde es eine teure Sucht.

«Wissen Sie, Joel war ein aufgewecktes Kind», sagt Archer. «Er ging
zum College. Er arbeitete für ein Ingenieurbüro und verdiente gutes
Geld, aber er hatte nie Geld.» Irgendwann sei klar geworden, dass
etwas mit ihm nicht stimme - «und die Dinge gerieten völlig außer
Kontrolle». Joel habe gestohlen, um seine Sucht zu finanzieren, sei
ins Gefängnis gekommen. Kein Therapieangebot sei langfristig genug
gewesen, um ihm wirklich zu helfen.

Eine sehr wütende Mutter

Dann sei Joel wieder zu Hause eingezogen «und wir dachten, es gehe
ihm gut. Es waren einige der besten Tage, einige der besten Monate,
die wir seit Jahren mit ihm hatten», sagt Archer. Am Morgen des 12.
Juni 2013 sei ihr Sohn dann nach einer Überdosis nicht mehr
aufgewacht. Er wurde 24 Jahre alt.

Archer bezeichnet sich selbst als «eine sehr wütende Mutter». «Die

großen Pharmakonzerne kamen hierhin und verkauften eine Lüge», sagt
sie mit Blick auf die Behauptung, die Medikamente machten nicht
süchtig. «Sie verkauften den Ärzten eine Lüge, sie verkauften den
Politikern eine Lüge. Alle fügten sich wegen des Geldes.» Archer
engagiert sich inzwischen in der Suchthilfe - sie ist Präsidentin des
Verwaltungsrats von Recovery Point West Virginia. Die gemeinnützige
Organisation betreibt mehrere stationäre Therapieeinrichtungen.

Wie Corona die Opioid-Epidemie angeheizt hat

Die Corona-Pandemie hat die Opioid-Krise noch weiter verschärft. 2018
sank die Anzahl tödlicher Überdosierungen in den USA erstmals seit
langem, aber das Virus machte alle Erfolge zunichte. Das Netz der
Hilfs- und Betreuungsangebote ist in den USA ohnehin viel dünner als
in Deutschland - wegen der Pandemie mussten viele Institutionen
zeitweise schließen. Recovery Point Charleston konnte einige Monate
lang niemanden mehr neu aufnehmen. Süchtige saßen isoliert zu Hause,
wenn sie denn eines hatten. Stuart sagt, man habe in der Region
erkennen können, wann die Corona-Hilfszahlungen der Regierung
eingegangen seien, weil dann die Überdosierungen zugenommen hätten.

Alle öffentliche Aufmerksamkeit richtete sich auf die Pandemie, die
Opioid-Krise verschwand weitgehend aus den Schlagzeilen. Archer sagt:
«Ich möchte nur, dass unsere Politiker wissen, dass dies weitergeht,
dass Familien jeden Tag geliebte Menschen verlieren.»

Wieder dankbar sein können

In Charleston unterhält Recovery Point seit fünf Jahren eine
Einrichtung für Frauen, die clean werden wollen. Neun bis zwölf
Monate dauert das Programm. Die 100 Betten reichen nicht, es gibt
eine Warteliste. In einem der Gemeinschaftsräume ist ein Baum an die
Wand gemalt. Daran haben die Frauen Herbstlaub gehängt, das sie
draußen gesammelt haben. Auf die Blätter haben sie geschrieben, wofür

sie dankbar sind. «Nüchternes Lachen» steht auf einem, «Mein Sohn
»
auf einem anderen, Herzen umringen die Worte. Auf einem weiteren
Blatt ist zu lesen: «Wieder in der Lage zu sein, dankbar zu sein».

In einem Familienzimmer, das von den Archers eingerichtet wurde und
nach Joel benannt ist, türmen sich Spielzeuge. Hier können Mütter
ihre Kinder treffen, die sie in der Einrichtung nicht bei sich haben
dürfen. In einem Flur hängen Münztelefone an der Wand - eigene
elektronische Geräte wie Handys sind verboten. Ein paar Ecken weiter
findet sich an einer anderen Wand eine Fotogalerie mit 35 Bildern.
Diese Frauen haben es nach ihrem Aufenthalt in der Einrichtung in
Charleston nicht geschafft, clean zu bleiben - und sind gestorben.

«Als würde man sterben»

«Ich habe wahrscheinlich hunderte Freunde gehabt, die an einer
Überdosis gestorben sind», sagt Amy Lusk (41). Sie steht kurz vor dem
Ende des Programms in Charleston. Ihre 20-jährige Drogenkarriere sei
nicht vorgezeichnet gewesen, sagt Lusk. In der High School habe sie
als Athletin geglänzt. Ende der 1990er-Jahre habe sie das erste Mal
eine der Pillen probiert, die damals auf Partys herumgereicht worden
seien. «Niemand hat sich etwas dabei gedacht. Und bevor man es
wusste, war man abhängig.» Sechs Monate später sei sie «völlig
süchtig» gewesen. Dann sei der Absturz gekommen.

«Nach einem gewissen Punkt wird man nicht mehr high. Man fühlt sich
nur normal. Man ist nur nicht krank», sagt Lusk über die Wirkung der
Opioide. «Man sieht keinen Ausweg mehr. Denn wenn man sie nicht mehr
hat, fühlt man sich, als würde man sterben.» Schließlich sei sie im

Gefängnis gelandet. Als sie auf Bewährung entlassen worden sei, sei
eine Auflage eine Behandlung im Recovery Point gewesen. «Von alleine
wäre ich nie gekommen. Mir hat geholfen, dass ich gezwungen wurde.»
Nach dem Ende ihrer Therapie wolle sie selbst in der Suchthilfe
arbeiten - schließlich wisse sie, wovon sie rede, sagt Lusk. «Ich
denke, ich könnte Menschen, die Hilfe wollen, wirklich helfen.»