«Erheblicher Fanatismus»: Sorge über aggressive Corona-Proteste Von dpa-Korrespondentinnen und -Korrespondenten

Sie pfeifen auf Abstandsregeln und Schutzmasken, manche attackieren
sogar die Polizei. Auf Deutschlands Straßen braut sich in diesen
Tagen bei Protesten gegen die Corona-Politik eine explosive Mischung
zusammen.

Dresden/Stuttgart/Schwerin (dpa) - Es ist eine Minderheit, aber sie
ist lautstark und bestimmt derzeit die Bilder in sozialen und anderen
Medien: Die Proteste gegen Corona-Maßnahmen und eine mögliche
Impfpflicht in Deutschland haben zum Jahresende 2021 stark zugenommen
und reißen auch im neuen Jahr nicht ab. Sicherheitsbehörden
befürchten eine zunehmende Aggressivität der Demonstranten. Zuletzt
wurden zahlreiche Polizisten in Bautzen, Mannheim und anderswo
attackiert und verletzt. Doch wer sind diese Menschen, die
Schutzmaßnahmen bewusst missachten und sich staatlichen Anordnungen
widersetzen?

«Impfgegner, 'Corona-Leugner', Politikverdrossene und 'Verlierer' der
Krise werden von extremistischen Akteuren und Ideologien gezielt
adressiert», heißt es beim Innenministerium in Stuttgart. Dadurch
bestehe die Gefahr einer extremistischen Vereinnahmung und zum Teil
auch Radikalisierung dieser Personengruppen. «Der Staat und seine
Repräsentanten werden von den Extremisten nicht auf legitime Weise
kritisiert, sondern massiv angefeindet.» Nach Einschätzung des
Verfassungsschutzes in Baden-Württemberg könnten Aufrufe aus diesen
Kreisen gerade auf «labile Einzelpersonen» motivierend wirken.

Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) geht davon aus, dass eine
Impfpflicht die Stimmung auf den Straßen weiter anheizen wird. «Mit
zunehmender Dauer der Pandemie hat sich die Szene radikalisiert»,
sagt er und sieht Menschen in einen gefährlichen Strudel geraten. Die
Pandemie habe Spuren hinterlassen, Existenzen vernichtet oder Leute
an den Rand ihrer Existenz gebracht. Nun werde der Unmut sichtbar.
«Rechtsextremen, Reichsbürgern und Selbstverwaltern gelingt es
zunehmend, in die bürgerliche Mitte vorzudringen.» Vor allem in
Ostdeutschland gebe es tiefes Misstrauen gegenüber dem Staat.

Ähnlich sieht das der Rechtsextremismus-Forscher Johannes Kiess von
der Universität Leipzig. In Ostdeutschland gebe es besonders viele
Menschen, die der Demokratie und dem Staat generell kritisch
gegenüber stünden, meint er. «Man muss aber auch sagen, dass die
Landesregierung gerade in Sachsen den sich entwickelnden
Rechtsextremismus ignoriert hat. Das Zitat von Kurt Biedenkopf,
Sachsen sei immun gegen rechtsradikale Versuchungen, ist dafür
symptomatisch.» Bei den Corona-Protesten seien von Anfang an
Rechtsextreme, «Reichsbürger» und Neonazis dabei gewesen, die
versuchten, die sogenannte Mitte der Gesellschaft zu mobilisieren.

Auch in Mecklenburg-Vorpommern warnt Innenminister Christian Pegel
(SPD) davor, dass Verfassungsfeinde das Thema Corona für ihre Zwecke
nutzen. Zwar seien die Proteste überwiegend friedlich und «oft
getragen aus der Mitte der Gesellschaft». Pegel forderte die
Demonstranten aber zuletzt auf, klare Kante gegen jene Teilnehmer zu
zeigen, die mit extremen Positionen und falschen Aussagen nur
Misstrauen und Unfrieden stiften wollten.

Pegels Thüringer Kollege Georg Maier (SPD) rechnet genau wie Wöller
mit einer weiteren Radikalisierung eines Teils der Corona-
Protestler. Maier warnte sogar davor, dass sich terroristische
Strukturen herausbilden könnten. Es spiele Rechtsextremisten in die
Karten, dass sich Impfgegner radikalisierten. «Die wollen ja Gewalt
auf den Straßen, das gehört zur Strategie dazu.» Rechte versuchten,
aus den Ängsten der Menschen politisches Kapital zu schlagen. Auch
und gerade die AfD versuche, «auf dieser Welle zu reiten».

Tatsächlich hat die AfD die Pandemie zu ihrem Thema Nummer eins
gemacht. Während sie etwa in Sachsen zu Beginn den Katastrophenalarm
forderte, schwenkte sie mit wachsendem Unmut der Leute im ersten
Lockdown um. Inzwischen unterstützt sie Proteste gegen die
Corona-Politik offen und fordert unter Hinweis auf das Grundrecht der
Versammlungsfreiheit den Verzicht auf zahlenmäßige Beschränkungen.

Der Bautzener AfD-Bundestagsabgeordnete Karsten Hilse - von Beruf
Polizist - gab, kurz nachdem zwölf seiner früheren Kollegen bei
Protesten in Bautzen verletzt worden waren, den Regierenden Schuld an
der Gewaltspirale. Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer
(CDU) «und seine Clique» wollten die Eskalation, erklärte er. «Sie

wollen das Chaos.»

Vielerorts registriert die Polizei ein Anschwellen der Proteste. Gab
es in der ersten Dezemberwoche 2021 in Brandenburg noch 36
angemeldete Versammlungen, hat sich die Zahl zum Monatsende mit 95
mehr als verdoppelt. Laut Polizei ist ein Großteil der Protestzüge
nicht angemeldet. Allein am letzten Montag im alten Jahr seien bei 75
Versammlungen in 62 Orten insgesamt 19 000 Menschen auf die Straße
gegangen. In Sachsen-Anhalt - wo es keine zahlenmäßige Beschränkung
von Demonstrationen gibt - waren es am gleichen Tag bei 37
Versammlungen etwa 16 700.

Nicht anders sieht es im Westen aus. Im Saarland wurden am Montag vor
einer Woche bei einer Kundgebung in Saarbrücken rund 3000 Menschen
gezählt, in mehreren Städten in Rheinland-Pfalz waren es 8000, in
Fulda in Hessen waren etwa 1000. In Bayern liefen Gegner der Corona-
Politik am vergangenen Mittwoch noch einmal zu Hochform auf. Allein
in München zogen Tausende von ihnen durch die Innenstadt. Bayerns
Innenminister Joachim Herrmann (CSU) attestierte einem Teil
«erheblichen Fanatismus». Dass einige von ihnen selbst eigene Kinder
einspannen oder sich in Einzelfällen sogar bewaffnen würden, sei
«etwas, was uns Sorge bereitet».

Rheinland-Pfalz hat im September erlebt, wohin Radikalisierung führen
kann. In Idar-Oberstein wurde ein 20-Jähriger Mitarbeiter einer
Tankstelle erschossen, weil er den mutmaßlichen Täter - ein 49 Jahre
alter Mann - auf die Maskenpflicht hingewiesen hatte. Der Fall sorgte
bundesweit für Entsetzen.

Unwidersprochen bleiben die Demonstrationen jedoch nicht. In Sachsen
etwa machen die Initiativen «Bautzen gemeinsam» und «#Wir lieben
Freiberg» mobil gegen Leugner der Pandemie und Kritiker von
Schutzmaßnahmen. Ziel ist es, jenen eine Stimme zu geben, die sich an
die Regeln halten. «Es kann nicht sein, dass eine ganze Stadt wegen
einer Minderheit in Verruf gerät, denn das Ausmaß ist entsetzlich:
Freiberger Produkte werden jetzt schon gemieden, Urlaubsreisen zu uns
in Größenordnung storniert», erklärte Freibergs parteiloser
Oberbürgermeister Sven Krüger.