«Die Tat muss uns aufrütteln»: Landtag debattiert über Idar-Oberste in

Die Radikalisierung von Menschen in der Corona-Pandemie beschäftigt
nach der Bluttat in Idar-Oberstein den Landtag. Wie lässt sich die
Gewaltbereitschaft stoppen?

Mainz (dpa/lrs) - Bei Straftaten in Zusammenhang mit der Bekämpfung
der Corona-Pandemie deutet sich in Rheinland-Pfalz nach Einschätzung
von Innenminister Roger Lewentz (SPD) in diesem Jahr ein leichtes
Plus an. Das Landeskriminalamt habe im ersten Halbjahr bereits 119
solcher Straftaten registriert, nach 78 im gesamten Vorjahr, sagte er
am Donnerstag im Landtag. Lewentz äußerte sich während einer
Aktuellen Debatte zu dem tödlichen Schuss auf einen 20 Jahre alten
Tankstellen-Kassierer in Idar-Oberstein, der den Täter auf die
Maskenpflicht aufmerksam gemacht hatte.

Abgeordnete aller sechs Fraktionen zeigten sich entsetzt über die Tat
und sprachen der Familie und den Freunden des Opfers ihr Mitgefühl
aus. «Die Tat muss uns aufrütteln, viel, viel stärker gegen
Radikalisierungen zu wirken», sagte die Parlamentarische
Geschäftsführerin der Grünen-Fraktion, Pia Schellhammer.

Die meisten der 119 Straftaten im Zusammenhang mit der Bekämpfung der
Corona-Pandemie seien Sachbeschädigung und Beleidigungen, sagte der
Innenminister. Es seien aber auch fünf Gewalttaten registriert
worden, nach drei im Jahr zuvor. Seit Beginn der Pandemie bis Mitte
September habe es 398 öffentliche Protestversammlungen im
Zusammenhang mit Corona gegeben, darunter seien 147 aus der
Querdenker-Szene. Die meisten seien friedlich verlaufen, es seien abe
auch 64 Straftaten registriert worden.

Die Zahl der sogenannten Reichsbürger liege im Bundesland bei etwa
700, sagte Lewentz. Als gewaltbereite Rechte gelten etwa 150
Menschen. Zur rechtsextremen Splitterpartei III. Weg würden ungefähr

50 Menschen gezählt, die Angehörigen der Identitären Bewegung lägen

im «unteren zweistelligen Bereich». Das Bundesamt für
Verfassungsschutz zählte die Identitäre Bewegung 2020 zu
rechtsextremistischen Akteuren der Neuen Rechten.

Schellhammer von den Grünen sagte: «Die Radikalisierung der
Querdenker-Szene befeuert durch die extreme Rechte ist
besorgniserregend.» Gewalt sei kein legitimes Mittel in der
Demokratie, und wer solche Taten wie die in Idar-Oberstein bejuble,
sei ein Anti-Demokrat und verfassungsfeindlich. «Eine solche Tat
schüchtert alle ein, die solidarisch nach der Maske fragen.»
Notwendig sei ein Signal der Unterstützung und Solidarität an alle
Kassierer, Busfahrer und andere Menschen. Schellhammer forderte auch,
viel intensiver gegen illegalen, aber auch legalen Waffenbesitz
vorzugehen, und die zivilgesellschaftliche Prävention zu stärken.

«Es ist in Rheinland-Pfalz passiert, aber es hätte überall in
Deutschland passieren können», sagte der innenpolitische Sprecher der
CDU-Fraktion Dirk Herber. Politik und Gesellschaft müssen sich
intensiv damit auseinandersetzen, dass sich die Menschen nicht nur an
den politischen Rändern radikalisierten, sondern auch Einzelne im
Internet. Dazu bedürfe es Gespräche mit Konzernen wie Facebook
darüber, wie die Regulierung von Internet-Plattformen aussehen könne.
«Onlinedurchsuchung und Vorratsdatenspeicherung sind die guten
Geister, mit denen wir die beobachten können, die sich weiter im Netz
radikalisieren.»

«Wir verteidigen die Freiheit nicht dadurch, dass wir sie immer
weiter einschränken», entgegnete der Chef der FDP-Fraktion, Philipp
Fernis. Freiheit und Demokratie müssten vielmehr überall verteidigt
werden und die Mechanismen der Radikalisierung im Internet besser
verstanden werden.

Die Vorsitzende der SPD-Fraktion, Sabine Bätzing-Lichtenthäler,
sagte, der Täter habe sich offenbar während der Corona-Pandemie im
Internet radikalisiert. «Die Tat führt uns so vor Augen, wie Wut und
Hassgefühle von Menschen wachsen.» Mit Blick auf Kassiererinnen,
Busfahrer und andere Menschen, die auf die Einhaltung der
Maskenpflicht achten, forderte sie: «Wir dürfen vor Worten und Taten
der Querdenker und Radikalen nicht zurückweichen.»