Warnsysteme reichen nicht: Gehörlose kritisieren Katastrophenschutz Von Anja Sokolow, dpa

Gehörlose in Deutschland fühlen sich nicht ausreichend vor
Katastrophen gewarnt - insbesondere nach dem Hochwasser im Sommer.
Eine App und ein besonderer SMS-Service könnten die Lage verbessern.

Solingen/Berlin (dpa) - Die Schafe von Christopher Brandenstein aus
Solingen (Nordrhein-Westfalen) weiden normalerweise an der Wupper. Am
14. Juli wäre die Wiese für die Tiere beinahe zur tödlichen
Falle geworden: Starke Regenfälle ließen den Fluss rasant über die

Ufer treten. In Notsituationen wie bei der schweren Flutkatastrophe
im Sommer hat es der 41-Jährige noch schwerer als viele andere
Menschen, denn er ist gehörlos. Er kann sich nicht nur schwerer
verständigen. Er hört auch Sirenen und Lautsprecher nicht. 

Beinahe in letzter Minute holte Brandenstein die Schafe mit Hilfe von
Nachbarn von der Weide, doch viele Nachbarhäuser seien überflutet
worden, so Brandenstein. «Wenn es rechtzeitig Warnungen gegeben
hätte, dann hätte es anders ausgesehen. Wir hätten uns dann gut
vorbereiten können. Stattdessen gab es Panik, Angst und Chaos. Die
Politik hat versagt», sagt Brandenstein. Die Apps Katwarn und Nina
hätten lediglich vor Starkregen gewarnt, nicht aber vor Hochwasser.
Brandenstein selbst habe sich auf sein Bauchgefühl verlassen und bei
seinen Nachbarn Alarm geschlagen.

«Die Warnsysteme reichen bei weitem nicht aus, selbst für die
allgemeine Bevölkerung nicht», sagt auch Daniel Büter, politischer
Referent beim Deutschen Gehörlosen-Bund (DGB). Kurz nach der
Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen hat der
DGB ein Papier veröffentlicht, in dem er der Bundesregierung einen
mangelhaften Katastrophenschutz vorwirft. Sie verletze Artikel 11
der UN-Behindertenrechtskonvention. Laut der Konvention muss
Deutschland den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit
Behinderungen bei Naturkatastrophen gewährleisten. 

Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK)
arbeite stetig daran, die Warnung der Bevölkerung so barrierefrei wie
möglich zu gestalten, sagt eine Sprecherin. Die Vielfalt der
Warnmittel sei entscheidend. Neben Sirenen, Lautsprecheransagen oder
Radiodurchsagen seien im Fernsehen Spruchbänder und Texteinblendungen
zu lesen, um auch gehörlose Menschen auf die auftretenden Gefahren
aufmerksam zu machen. 

Aus Sicht des DGB ist das aber zu wenig. «Untertitel sind meist nur
im digitalen Fernsehen zu bekommen, doch das hat nicht jeder»,
kritisiert Büter. Der Verband fordere seit langem, dass
Gebärdensprachdolmetscher nicht nur in den Hauptnachrichtensendungen
eingeblendet werden. «Wenn Feuerwehrleute, Bürgermeister oder andere

Personen im Fernsehen Interviews zur aktuellen Lage geben, sollte
immer auch ein Gebärdendolmetscher daneben stehen», sagt Büter. In

anderen Ländern sei das üblich. 

«Deutschland ist in vielen Bereichen sehr rückständig», sagt Bü
ter,
auch in Sachen Cell Broadcast. Mit diesem System können alle Menschen
in Gefahrenbereichen, die sich in einer entsprechenden Funkzelle mit
ihrem Handy aufhalten, per Textnachricht gewarnt werden. Eine App ist
nicht nötig, die Technik funktioniert auch auf Tastenhandys. 

Im August hat das Kabinett die Einführung dieser Technik auf den Weg
gebracht, das BBK arbeitet daran. «Die Technik ist in vielen Ländern

bereits im Einsatz, in Europa in den Niederlanden, Litauen, Rumänien
und Griechenland. In Italien und dem Vereinigten Königreich soll der
Dienst 2021 bereits starten oder gestartet sein», ergänzt
DGB-Sprecher Felix Wille Zante. 

Das BBK hat zudem ein Förderprogramm für den Einsatz von Sirenen in
Höhe von 88 Millionen Euro aufgelegt. «Hier wollen wir auch
berücksichtigt werden», fordert Büter. Es müsse auch mehr visuelle

Warnungen geben. Sirenen sollten demnach auch leuchten - und
durchgesagte Anweisungen per Lautsprecher auch per Text-Laufband auf
Einsatzfahrzeugen oder an Monitoren abgespielt werden.

Doch es gehe beim Katastrophenschutz um mehr als die Warnung der
Bevölkerung. Es müsse auch möglich sein, barrierefrei einen Notruf
abzusetzen, so der Referent. Hier setze der Verband seine Hoffnungen
in die Bundesnotruf-App Nora, deren Einführung immer wieder
verschoben wurde. «Die App «nora» wird zum Ende des dritten Qua
rtals,
also wohl noch in diesem Monat, erhältlich sein», kündigt Matthias

Gebler, Sprecher des federführenden Innenministeriums
Nordrhein-Westfalen, an. 

«Die App wird Menschen mit Hörbeeinträchtigung sehr helfen. Nicht
alle können ohne weiteres einen Gebärdendolmetschdienst nutzen, der
auch in Notfällen weiterhilft», ist Carsten Schneider, Experte des
Deutschen Feuerwehrverbandes, überzeugt. Zum Beispiel sei nicht jeder
Gehörlose von Geburt an gehörlos und habe die Gebärdensprache
erlernen können. 

Wenn die Rettungskräfte bei Gehörlosen eintreffen, werde in der Regel
mit Stift und Zettel oder mit Angehörigen kommuniziert. Beim
Wupper-Hochwasser hätten die Feuerwehrleute zunächst mit
Taschenlampen durch das Fenster geleuchtet, da die Türklingel mit
Blitzlicht wegen des Stromausfalls nicht mehr ging, erzählt
Brandenstein von der Nacht, in der sein Haus evakuiert wurde. Die
Rettungskräfte hätten dann Sprachnachrichten in ihre Handys
gesprochen, die er lesen konnte. «Wir tippten. Es funktionierte». 
 

Er hatte Glück im Unglück: «Nur unser Garten wurde zerstört. Bei

einem Stall war die Tür weg, die Wassermassen müssen sie fortgerissen
haben», so Brandenstein. Bei den Nachbarn sei viel zerstört worden.
«Ich habe viel beim Aufräumen geholfen, so viele Sachen mussten auf
den Müll, denn es war alles kaputt, durchgeweicht oder stank».