Prozentpunkte gegen Corona-Sorgen - das Ringen um die Impfquote Von Josefine Kaukemüller, dpa

Politik und Wissenschaft warnen: Der nächste Corona-Sorgenherbst
droht. Nur ein deutliches Plus an Geimpften könne für Abhilfe sorgen.
Tatsächlich gilt bei der Impfquote: Jeder Prozentpunkt zählt.

Berlin (dpa) - Die Coronazahlen in Deutschland kennen seit Wochen
praktisch nur den Weg nach oben - das Impftempo aber stockt. Bislang
sind weniger als 65 Prozent der Gesamtbevölkerung vollständig
geimpft. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) appelliert: Das
müssen mehr werden. Lothar Wieler, Chef des Robert Koch-Instituts
(RKI), warnt vor einem «fulminanten Verlauf» der aktuellen vierten
Welle im Herbst, sollte die Impfquote nicht klar steigen.
Expertenschätzungen zeigen: Mit jedem Prozentpunkt, um das die
Impfquote steigt, kann sich die Situation entspannen.

Mit einer bundesweiten Aktionswoche mit Start am Montag will die
Bundesregierung Schwung in die Impfungen bringen. An möglichst vielen
Orten sollen einfach wahrzunehmende Angebote gemacht werden.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) rief zum Start dazu auf, die Angebote
für Corona-Impfungen zu nutzen. «Nie war es einfacher, eine Impfung
zu bekommen. Nie ging es schneller», sagte sie in einem am Sonntag
veröffentlichten Video-Podcast.

Zuletzt nahm die Impfquote nur noch schleppend zu - im August
lediglich um rund 10 Prozentpunkte. Nach dem jüngsten
RKI-Wochenbericht hatten in der Bevölkerung über 60 Jahre 83 Prozent
den vollen Impfschutz. Bei den Erwachsenen unter 60 Jahren liegt die
Quote hingegen lediglich bei 66 Prozent. Bei Kindern und Jugendlichen
im Alter von 12 bis 17 sind es derzeit etwa ein Viertel. Für jüngere
Minderjährige ist noch kein Corona-Impfstoff zugelassen.

Der Kölner Intensivmediziner Christian Karagiannidis befürchtet ohne
steigende Impfquoten volle Intensivstationen in den nächsten Monaten.
«Für die Intensivmedizin gilt: Wenn wir die Impfquote nicht noch mal
deutlich steigern, dann laufen wir in einen ganz schwierigen Herbst
hinein», sagt der wissenschaftliche Leiter des Intensivregisters der
Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und
Notfallmedizin (Divi) der Deutschen Presse-Agentur.

Es zeige sich bereits, dass die Impfquote besonders bei Menschen bis
60 noch zu gering sei. «Wir haben das Problem, dass der
Altersdurchschnitt auf den Intensivstationen gerade sehr deutlich
nach unten geht und viele Patienten unter 60 Jahre alt sind», so
Karagiannidis.

Was für Auswirkungen auf die Intensivbetten-Belegung der kommenden
Monate eine Steigerung der Impfquote in der Gruppe der 12- bis
59-Jährigen haben könnte, zeigen Schätzungen des RKI. Mit einer
Impfquote von 65 Prozent wäre demnach noch mit einem sehr starken
Anstieg der 7-Tage-Inzidenz auf bis zu 400 und mit bis zu etwa 6000
Covid-19-Patienten zeitgleich in intensivmedizinischer Behandlung zu
rechnen. Für eine Impfquote von 75 Prozent zeigt das RKI-Modell schon
weit niedrigere Inzidenzen unter 150 und lediglich 2000 belegte
Intensivbetten an.

Sowohl bei einer 85-prozentigen als auch bei einer 95-prozentigen
Impfquote in dieser Gruppe steigt demnach die Inzidenz nicht mehr
über 100 beziehungsweise 50 und die Intensiv-Auslastung nicht mehr
über 1000 Betten. Laut RKI sind bei den Schätzungen zum Einfluss der
Impfquote viele Faktoren wie etwa die Dominanz der hochinfektiösen
Delta-Variante und die Reaktion der Menschen auf steigende
Infektionszahlen mit ausschlaggebend.

Laut einer Modellierung von Karagiannidis gemeinsam mit Andreas
Schuppert von der RWTH Aachen und Steffen Weber-Carstens von der
Charité Berlin ist derzeit ab einer Inzidenz von etwa 200 wieder von
einer erheblichen Belastung der Intensivstationen mit mehr als 3000
Intensiv-Patienten zeitgleich auszugehen.

Bei erheblich gesteigerten Impfquoten - bei den 18- bis 59-Jährigen
etwa auf 80 und bei den über 60-Jährigen auf 90 Prozent - ergäbe sich

diese Belastung erst bei einer Inzidenz von etwa 400, wie
Karagiannidis kalkuliert. Zwar hätte man dann etwas mehr «Zeit und
Spiel», dennoch warne er ausdrücklich davor, die Inzidenzen
unkontrolliert hochschnellen zu lassen. «Das Entscheidende ist, dass
die Inzidenz nicht stetig ansteigen darf. Und das ist ein
Riesenproblem, das ich sehe», betont er.

Diverse Faktoren wie etwa die Verteilung der Neuinfektionen in den
verschiedenen Altersgruppen seien bei sämtlichen Prognosen,
Schätzungen und Berechnungen zu berücksichtigen - und machten diese
so schwierig, gibt Karagiannidis zu bedenken. Weil bei jüngeren
Intensivpatienten die Sterblichkeit oft nicht so hoch sei, könne es
zudem sein, dass diese, wenn sie einmal dort lägen, länger auf den
Intensivstationen blieben. Zudem fehle es bei allen Erfassungen an
breiten Daten zu Genesenen, die die Infektion nicht bemerkt, aber
durchgemacht hätten und jetzt immun seien. Diese Dunkelziffer sei
unklar, spiele aber eine herausragende Rolle.

Gesundheitsminister Spahn hatte am Mittwoch gesagt, die angestrebte
Impfquote für einen sicheren Herbst und Winter liege bei den über
60-Jährigen bei über 90 Prozent und bei den 12- bis 59-Jährigen bei
75 Prozent. Nötig seien dafür noch mindestens fünf Millionen
Impfungen.

Doch würde auch schon eine Gesamtimpfquote von über 70 Prozent -
statt der derzeit nur wenige Prozentpunkte über 60 - etwas ändern?
Modellierungs-Mitautor Schuppert ist überzeugt: «Zehn Prozent machen
in der Tat etwas aus.» Bei den älteren Menschen lasse sich durch
höhere Impfquoten das Risiko für hohe Belegungen der
Intensivstationen deutlich reduzieren.

Bei Jugendlichen sei die Auswirkung auf die Intensivstationen wohl
eher gering - schließlich gebe es bei ihnen nur selten entsprechend
schwere Verläufe. Eine bei ihnen steigende Impfquote schlage sich
aber wohl deutlich bei der Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus
nieder, erklärt der Experte.

Die Steigerung der Impfquote sei bei Erwachsenen aller Altersgruppen
wichtig, betont Schuppert - insbesondere auch bei denen ab etwa 35
Jahren, weil die Delta-Variante das Erkrankungsrisiko auch auf
jüngere Altersgruppen schiebe. Dass nun oft eher jüngere Menschen auf
den Intensivstationen lägen, bei denen die Impfquote geringer als bei
den über 60-Jährigen sei, sei ein deutlicher Beleg dafür, dass die
Impfungen große Wirkung zeigen.

Schon vermeintlich geringe Erhöhungen der Quote könnten faktisch
große Unterschiede bewirken, betont auch Karagiannidis. Am Beispiel
der Bevölkerung zwischen 18 und 60 Jahren erklärt er: Wenn sich in
dieser Gruppe 10 oder 20 Prozent mehr Menschen impfen ließen, seien
das konkret etwa vier oder acht Millionen Menschen mehr, die durch
die Impfung geschützt seien - «am Ende also viel, viel weniger
Intensivpatienten».

Die Braunschweiger Epidemiologin Berit Lange vom Helmholtz-Zentrum
für Infektionsforschung erklärt, dass sich aber nicht nur die Frage
stelle, welche Höhe die Impfquote realistisch erreichen könne.
Praktisch sei von Bedeutung, wer ganz konkret noch geimpft werden
könne und wie diese Menschen zu erreichen seien.

Lange geht davon aus, dass für das noch ungeimpfte Drittel der
Bevölkerung viel größere Ressourcen aufzuwenden sind als bislang.
«Die Menschen sind ja nicht alle Impfgegner, sondern viele sind
einfach noch nicht vollkommen überzeugt, haben Fragen und sind
unsicher.» Wichtig sei es, genau zu wissen, in welchen Stadtvierteln
oder Bevölkerungsgruppen etwa die Impfquote noch (zu) gering sei -
und wie diese Menschen überzeugt werden könnten.

Wenn man es theoretisch schaffe, von den aktuell noch nicht geimpften
Menschen die zu impfen, die aufgrund ihrer Berufe oder
Haushaltssituation die meisten Kontakte hätten, sowie jene mit
erhöhtem Risiko für einen schweren Verlauf, würde man noch mehr
Infektionen verhindern können, so die Expertin. In den nächsten
Wochen gehe es darum, diese Menschen zum Impfen zu bewegen.

«Es ist aber sehr schwierig, eine Impfkampagne so zu gestalten, dass
tatsächlich vor allem diese Menschen erreicht werden», gibt Lange zu
bedenken. Und grundsätzlich sei es natürlich das Ziel, möglichst alle

zu impfen - sowohl zum Selbst- als auch zum Fremdschutz.