Noch lange mit Maske? - Aerosolforscher untersucht Konzert  Von Christina Sticht, dpa

Die Zahl der Infektionen sinkt, aber Bund und Länder zögern mit
Lockerungen für Großveranstaltungen. Forscher plädieren für
Modellprojekte. Schlüssel seien gute Lüftung sowie Testen und Impfen.

Hannover (dpa) - Sich vor der Bühne drängeln, in der Masse die Songs
einer Band mitgrölen oder je nach Laune den Platz wechseln: Das wird
nach Einschätzung von Wissenschaftlern bei Konzerten so bald nicht
wieder in der Form möglich sein wie vor der Pandemie. Dass die
Ministerpräsidentenkonferenz am Donnerstag das Thema
Großveranstaltungen vertagt hat, enttäuscht sowohl Veranstalter als
auch Kulturfans. Erste Studien legen allerdings nahe, dass bei einem
Konzert- oder Kinobesuch mit festen Sitzplätzen drinnen kaum eine
Corona-Infektionsgefahr besteht, wenn bestimmte Auflagen eingehalten
werden.

«Eine gute Lüftungsanlage ist das A und O», sagt Wolfgang Schade. Der

Physiker am Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut will mit seinen
Experimenten wissenschaftliche Daten liefern und helfen, über
Ansteckungsgefahren aufzuklären und Ängste zu nehmen. An diesem Tag
untersucht er ein Testkonzert der NDR Radiophilharmonie. Im Publikum
sitzen 130 Beschäftigte eines Gesundheitsunternehmens, die
vollständig geimpft sind. Eigentlich hätten noch mehr Menschen kommen
können - in Niedersachsen dürfen Konzert- und Theatersäle bei einer
Sieben-Tages-Inzidenz unter 35 derzeit zu 50 Prozent besetzt werden.
Der Große Sendesaal in Hannover hat 1200 Plätze.

Möglicherweise hält das schöne Wetter einige ab, eventuell sind es
auch Berührungsängste nach mehr als 15 Monaten Pandemie. Schade hat
aus Schaufensterpuppen Dummys gebaut, die das menschliche Atmen
simulieren. Neben einem Dummy, der durch Schläuche Aerosole und CO2
ausstößt, sitzen zwei weitere Puppen, die «einatmen». Die Forschend
en
messen die Verteilung der Aerosole im Nahfeld, rund um die Puppen
sitzen die Zuhörenden im so genannten Schachbrettmuster. Jeder zweite
Platz bleibt frei. Ein weiterer Dummy «atmet» weiter entfernt auf dem
Rang. Aerosole sind winzige Partikel in der Luft, die Sars-CoV-2
enthalten können. Sie gelten als einer der Hauptübertragungswege der
Covid-19-Erreger.

Schade untersuchte bereits im November im Auftrag des Konzerthauses
Dortmund die Aerosolverteilung im dortigen Saal - allerdings ohne
Publikum. Bei einem kompletten Luftaustausch mit Außenluft alle 20
Minuten könne das Konzerthaus kein Superspreading-Event auslösen, war
ein Ergebnis. Bei einer Anlage mit Frischluftzufuhr werden Aerosole
demnach effektiv abtransportiert. Wenn keine Masken am Platz getragen
werden, sollte der direkte Vorderplatz freigehalten werden, rät
Schade. In schlecht belüfteten Räumen dagegen können sich Aerosole
mit der Zeit anreichern, so dass es laut Robert Koch-Institut (RKI)
gegebenenfalls nicht mehr ausreicht, den Mindestabstand von 1,50
Metern einzuhalten.

Er habe bereits bei rund 40 Veranstaltungen Experimente gemacht,
berichtet der Physiker aus Goslar, zuletzt bei der Pokal-Endrunde der
Handballer in Hamburg vor jeweils 2000 Zuschauern. Wenn Hallen voll
besetzt seien, könne dies sogar einen positiven Effekt haben: «Die
Wärme, die Menschen abstrahlen, unterstützt den Abtransport der
Aerosole in Richtung Abzug der Lüftungsanlage.» Dies wolle er genauer
untersuchen.

Wissenschaftler halten das Risiko, sich bei Großveranstaltungen
anzustecken, bei der jetzigen Infektionslage generell für gering -
besonders wenn Corona-Testungen vorab verpflichtend sind. Draußen
stellten Festivals und Konzerte auch ohne feste Sitzplätze keine
große Gefahr dar, sagt Aerosolforscher Gerhard Scheuch aus dem
nordhessischen Gemünden. Drinnen müsse man jedoch eine sehr effektive
Lüftung haben.

Angesichts neuer Virus-Varianten plädiert der Göttinger Physiker
Eberhard Bodenschatz für das Tragen von Masken auch am Sitzplatz.
Dann könne man Säle sogar mit mehr als der Hälfte der Besucher
besetzen. «Bei den neuen Varianten hilft Lüftung leider weniger als
bei den alten. Masken sind unschlagbar», sagt der Direktor am
Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. In der
direkten Nähe einer hochansteckenden Person liege die
Ansteckungswahrscheinlichkeit bei der zuerst in Großbritannien
aufgetretenen Alpha-Variante ohne Maske bereits nach wenigen Minuten
bei 100 Prozent. «Was wirklich hilft, ist das Testen. Aus meiner
Sicht schützen uns die vielen Tests im Moment.»

Die Auswertung eines Test-Konzertes Ende März in Barcelona gibt
Anlass zur Hoffnung. Die knapp 4600 Gäste hatten einen Schnelltest
gemacht und FFP2-Masken getragen. Zudem wurde für eine starke
Belüftung gesorgt. Wie die spanischen Behörden einen Monat später
mitteilten, wurden in den Wochen nach dem Konzert nur sechs der
Besucher positiv auf Corona getestet. In vier Fällen steckten sich
die Betroffenen nachweislich nicht bei dem Konzert an.

Dass die Lüftung ein entscheidender Faktor ist, hatte bereits ein
Konzert-Experiment mit Popstar Tim Bendzko im August ergeben. «Nach
unserer Studie ist das Infektionsrisiko bei schlechter Belüftung bis
zu 70 Mal größer», sagt Studienleiter Stefan Moritz von der
Universitätsmedizin Halle. Er empfiehlt weitere Modellprojekte zur
Öffnung von Kultur- sowie Sportveranstaltungen für Zuschauer. «Wir
müssen Schritt für Schritt gehen», sagt Moritz. Die derzeit niedrigen

Werte ermöglichten es, Konzepte zu testen.

Entscheidend werde sein, die 18- bis 40-Jährigen, die viele soziale
Kontakte haben, in diesem Sommer zum Impfen zu motivieren, betont der
Infektiologe. «Meine größte Sorge ist, dass sich in der jungen
Generation weniger Menschen impfen lassen, wenn die Inzidenz
runtergeht.»