Wenn Corona die Eltern raubt - Indiens traumatisierte Waisenkinder Von Anne-Sophie Galli und Siddhartha Kumar, dpa

Bilder von brennenden Scheiterhaufen aus Indien gingen um die Welt.
Sie zeigten das große Sterben einer heftigen Infektionswelle. Zurück
bleiben viele Kinder, die nun ohne Eltern sind.

Neu Delhi (dpa) - Corona hat Divyesh und Neha kurz nacheinander beide
Eltern geraubt. Sie starben im April während der heftigen zweiten
Infektionswelle in Indien. Der 15-jährige Divyesh verlor daraufhin
jede Hoffnung. Seine zwei Jahre ältere Schwester Neha handelte und
rief eine Hotline der Kinderschutzbehörde in der Hauptstadt Neu Delhi
an. So erzählt es der Chef der Behörde, Anurag Kundu, der Deutschen
Presse-Agentur. Divyesh sei schwer traumatisiert, Verwandte kümmerten
sich jetzt um die Geschwister.

Die Behörde habe mit mehreren Corona-Waisen und -Halbwaisen Kontakt.
«Es ist schwierig zu verstehen, was in ihnen vorgeht», sagt Kundu.
«Schlafstörungen, Angstzustände, weniger Appetit und das Gefühl,
allein zu sein, sind ein Teufelskreis, aus dem sehr schwer
freizukommen ist.»

Hilfsorganisationen haben überall in Indien Hilferufe erreicht.
Besonders bei Kindern aus ärmeren Familien wird befürchtet, dass
Corona-Waisen und -Halbwaisen ein höheres Risiko haben, selbst
arbeiten zu müssen, um überleben zu können, dass Mädchen früh
verheiratet werden, damit ihre Familien nicht mehr für sie sorgen
müssen oder dass sie Opfer sexueller Gewalt werden. Kinderarbeit und
zu einem gewissen Grad auch Kinderehen waren schon vor der Pandemie
nicht ungewöhnlich in dem Riesenland.

Die nationale Kinderschutzbehörde Indiens hat seit Pandemiebeginn
1742 Corona-Waisen und 7464 Corona-Halbwaisen erfasst.
Hilfsorganisationen gehen aber davon aus, dass deutlich mehr Kinder
ihre Mutter und/oder ihren Vater verloren haben. In dem Land mit
seinen mehr als 1,3 Milliarden Menschen starben nach offiziellen
Angaben bisher mehr als 330 000 Menschen an oder mit Covid-19.
Experten gehen davon aus, dass die tatsächliche Totenzahl deutlich
höher liegt.

Besonders um den Höhepunkt der zweiten Welle herum zirkulierten
Nachrichten wie diese in sozialen Netzwerken: «Wenn jemand ein
Mädchen adoptieren möchte, bitte kontaktieren Sie Priyanka unter
*Telefonnummer*. Ein Mädchen ist drei Tage alt, ein anderes sechs
Monate alt, sie haben ihre Eltern an Covid verloren. Bitte helfen
Sie, diesen Kindern ein neues Leben zu geben, sagen Sie das weiter.»

Teils dürften besorgte Menschen im Umfeld der Kinder solche
Nachrichten versandt - und dabei wohl auch Kinderhändler erreicht
haben, sagt Prabhat Kumar von der Hilfsorganisation «Save the
Children». Teils hätten aber auch Betrügerinnen und Betrüger
Nachrichten verschickt, um interessierten Adoptiveltern Geld
abzuknöpfen. Er und sein Team hätten die Nummern jeweils angerufen
und an die Polizei weitergegeben. Kundu von der Kinderschutzbehörde
sagt, dass manche Absender solcher Nachrichten um die 5600 Euro (500
000 Rupien) für ein Mädchen und 8900 Euro (800 000 Rupien) für einen

Jungen verlangt hätten.

Die Nachfrage nach Kindern zur Adoption sei in Indien groß, sagt
Kinderrechtsaktivistin Meera Marthi, Gründerin der Gruppe «Where are
India's Children». 30 000 Leute in Indien hoffen ihr zufolge auf ein
Adoptivkind. Gleichzeitig seien nur etwa 2200 Kinder offiziell zur
Adoption freigegeben. Viele Kinder würden allerdings nie erfasst,
andere lebten zwar in Waisenhäusern, erfüllten aber die Kriterien zur
Adoption nicht.

Oft sei es für Waisenkinder am besten, wie Divyesh und Neha bei
Angehörigen untergebracht zu werden, sagt Prabhat Kumar von «Save the
Children». Da es für viele ärmere Familien gerade jetzt in der
Pandemie schwer sei, noch für ein weiteres Kind zu sorgen, würden
solche Familien mit Essen unterstützt.