Seniorenresidenz Schliersee - Aus für Betreiber? Von Britta Schultejans, dpa
Verwahrlost und unterernährt - über Monate sollen Bewohner in einem
Seniorenwohnheim in Oberbayern völlig unzureichend betreut worden
sein. Die Staatsanwaltschaft München II ermittelt bereits - jetzt
wollen die Pflegekassen die Reißleine ziehen.
Schliersee (dpa/lby) - Im März wurden heftige Vorwürfe gegen ein
Altenheim am Schliersee bekannt - nun droht dem derzeitigen Betreiber
dieses Heimes das Aus. Die Arbeitsgemeinschaft der
Pflegekassenverbände in Bayern (ARGE) will den Vertrag mit dem
Betreiber beenden, wie eine Sprecherin am Dienstag mitteilte. Zuvor
hatte der Bayerische Rundfunk darüber berichtet. Der Leiter des
Heimes, Robert Jekel, betonte auf Anfrage der Deutschen
Presse-Agentur allerdings, eine Kündigung liege ihm nicht vor.
«Richtig ist, dass es ein Anhörungsverfahren seitens der
Arbeitsgemeinschaft der Pflegekassenverbände in Bayern gibt.
Selbstverständlich werden wir im Rahmen des Anhörungsverfahrens eine
Stellungnahme abgeben», sagte er.
Eine ARGE-Sprecherin gab dagegen an: «Die ARGE beabsichtigt, den
bestehenden Versorgungsvertrag für die Pflegeeinrichtung
Seniorenresidenz Schliersee für den Bereich der vollstationären
Pflege außerordentlich zum 31.08.2021 zu kündigen.» Die Kündigung
werde «mit der Verletzung der gesetzlichen und vertraglichen
Verpflichtungen begründet - nachgewiesen durch die wiederholt
festgestellten schwerwiegenden Risiken und Defizite bei den
Qualitätsprüfungen durch den MDK Bayern».
Der Medizinische Dienst (MDK) äußerte sich nicht zum Inhalt seines
Gutachtens und verwies auf die ARGE und das bayerische
Gesundheitsministerium. Nach Angaben Jekels wurden im «wesentlichen
Dokumentationsmängel beanstandet». «Aus diesen Dokumentationsmängel
n
wurden vom MDK Gefahren und Risiken für die Bewohnerinnen und
Bewohner abgeleitet, ohne dass auf der Grundlage der
Dokumentationsmängel eingetretene Schädigungen bei unseren
Bewohnerinnen und Bewohnern festgestellt oder nachgewiesen werden
konnten.» «Echte Pflegemängel», so Jekel, seien bei der Kontrolle
nicht festgestellt worden.
Der Heimbetreiber hat nach Angaben der ARGE noch bis Ende Mai die
Möglichkeit, Stellung zu den Vorwürfen zu nehmen. Dann solle die
endgültige Entscheidung fallen. «Kommt es zu einer Kündigung, werden
sich natürlich die Pflegekassen um die weitere Betreuung der
betroffenen Bewohner kümmern.»
Ende März war nach Recherchen des Bayerischen Rundfunks bekannt
geworden, dass die Staatsanwaltschaft München II wegen Verdachts auf
Körperverletzungsdelikte bei 88 Bewohnern des Heimes ermittelt.
Einige seien verwahrlost und unterernährt gewesen, sagte eine
Sprecherin der Anklagebehörde damals. Zudem würden 17 Todesfälle
untersucht. Zwei Verstorbene wurden den Angaben zufolge exhumiert.
Dabei gehe es auch um die Frage, ob eine Corona-Infektion oder
Unterernährung ursächlich für den Tod der Menschen waren, sagte die
Sprecherin damals. Die Ermittlungen beziehen sich den Angaben zufolge
auf einen Zeitraum von mehreren Monaten bis Mai vergangenen Jahres.
Der derzeitige Leiter der Seniorenresidenz, Jekel, wies die Vorwürfe
schon im März zurück. Nun betonte er erneut, er sehe «derzeit keine
schwerwiegenden Mängel.» «Viele Probleme aus dem letzten Jahr haben
wir bereits abgearbeitet», betonte er. Dem MDK-Bericht könne auch
«nicht entnommen werden, dass Menschen in der Einrichtung dehydriert
waren». Es seien auch «keine fast verhungerten beziehungsweise
verdursteten Menschen oder Menschen mit offenen, blutenden und
eiternden Wunden angetroffen» worden.
Jekel hatte die Stelle nach eigenen Angaben erst nach Beginn der
Ermittlungen angetreten. In dem Heim hatte es 2019 einen
Betreiberwechsel gegeben, laut Landratsamt richteten sich Vorwürfe
teils gegen einen vorangegangenen Betreiber. Seit Betriebsbeginn im
Jahre 2009 seien bislang schon 15 Einrichtungsleiter in dem Heim
eingesetzt gewesen.
Die Zustände in der Seniorenresidenz standen am Dienstag auch auf der
Tagesordnung des Gesundheitsausschusses im bayerischen Landtag.
Grüne, SPD und FDP forderten die Staatsregierung auf, im Ausschuss
Stellung dazu zu nehmen - vor allem zu der Frage, ob
Kontrollmechanismen möglicherweise nicht funktionierten. «Gerade die
Staatsregierung als letzte Instanz hat in ihrer Kontrollfunktion
versagt», kritisierte der pflegepolitische Sprecher der Grünen im
Landtag, Andreas Krahl.
Allein im vergangenen Jahr wurde die Einrichtung - auch wegen eines
Corona-Ausbruchs - 26 Mal von der Fachstelle für Pflege- und
Behinderteneinrichtungen (FQA), dem MDK oder der Regierung von
Oberbayern kontrolliert. Ergänzend gab es noch weitere Besuche des
Gesundheitsamtes. Das geht aus einer Antwort von Gesundheitsminister
Klaus Holetschek (CSU) auf eine Anfrage Krahls hervor, die der dpa
vorliegt. In diesem Jahr gab es demzufolge schon zwei Überprüfungen
im Januar und im März. Beide seien «anlassbezogen» gewesen.
«Wiederholte Mängel wurden in den Qualitätsbereichen Pflege- und
Dokumentation, Hygiene, Ernährung und Umgang mit Arzneimittel und
ärztlichen Anordnungen festgestellt», heißt es in der
Ministerantwort. Seit 2018 seien bei der zuständigen FQA 56 Anfragen
oder Beschwerden über die Einrichtung eingegangen. An diesem Freitag
soll das Urteil gegen einen demenzkranken, ehemaligen Bewohner
fallen, der im vergangenen Sommer eine bettlägerige Patientin dort
vergewaltigt und ermordet haben soll. «Man wird den Vorfall wohl so
sehen müssen, wie er war», sagte Jekel: «Nämlich ein schrecklicher
Unglücksfall.»
Und nicht nur die Strafjustiz befasst sich mit der Seniorenresidenz.
Am Landgericht München II waren und sind noch einige
Zivilstreitigkeiten anhängig, wie eine Gerichtssprecherin bestätigte.
Dabei gehe es beispielsweise um die Vergütung von Dienst- oder
Arbeitsleistungen. «Im Moment haben wir bereits in den ersten
Verfahren Vergleiche geschlossen», sagte Jekel. «Die Sach- und
Rechtslage ist äußerst komplex.»
Online-Wechsel: In drei Minuten in die TK
Online wechseln: Sie möchten auf dem schnellsten Weg und in einem Schritt der Techniker Krankenkasse beitreten? Dann nutzen Sie den Online-Beitrittsantrag der TK. Arbeitnehmer, Studenten und Selbstständige, erhalten direkt online eine vorläufige Versicherungsbescheinigung. Die TK kündigt Ihre alte Krankenkasse.