Mehr Freiheiten für Geimpfte - überfällig oder unfair? Von Anja Semmelroch, dpa

Gesundheitsminister Spahn stellt Menschen mit voller Corona-Impfung
Erleichterungen in Aussicht. Ungerecht denen gegenüber, die noch auf
einen Termin warten müssen? Rechtsexperten argumentieren anders.

Karlsruhe (dpa) - Unkomplizierteres Einkaufen, leichteres Reisen -
die Debatte über mehr Freiheiten für Menschen, die vollständig gegen

Corona geimpft sind, nimmt seit Ostern Fahrt auf. Noch ist unklar,
inwieweit sich Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit seinem
Vorstoß auch durchsetzen wird. Bisher gibt es nur Empfehlungen, mit
denen sich die Ministerpräsidentenkonferenz in der kommenden Woche
befassen soll. Rechtsexperten sind sich allerdings schon länger darin
einig, dass an einer schrittweisen Lockerung der
Grundrechtsbeschränkungen für Geimpfte kein Weg vorbeiführt.

Was ist aktuell im Gespräch und warum?

Beim Impfen gab es bisher eine große Unbekannte: Profitieren davon
auch die Mitmenschen? Oder können Geimpfte immer noch Überträger
sein, also andere mit dem Virus anstecken? Jetzt geht das Robert
Koch-Institut (RKI) in einem Bericht an Spahns Ministerium davon aus,
«dass Geimpfte bei der Epidemiologie der Erkrankung wahrscheinlich
keine wesentliche Rolle mehr spielen». Die Einschätzung bezieht sich
auf das Übertragungsrisiko «spätestens zum Zeitpunkt ab dem 15. Tag
nach Gabe der zweiten Impfdosis». Von wenigen Ausnahmen abgesehen
will das RKI diese Menschen nicht mehr in Quarantäne schicken, wenn
sie symptomfrei sind. Spahn will sie so behandeln, als ob sie frisch
negativ getestet wären. «Wer geimpft ist, kann ohne weiteren Test ins
Geschäft oder zum Friseur», sagte er der «Bild am Sonntag».

Wieso könnte das ein wichtiger Wendepunkt sein?

Der Staat darf prinzipiell niemals einfach so in Grundrechte
eingreifen. Es bedarf immer einer Rechtfertigung. Und die Maßnahmen
müssen verhältnismäßig sein. Von «Sonderrechten» oder «Privil
egien»
für Geimpfte zu sprechen, wie manche es tun, ist deshalb nicht
unproblematisch. Tatsächlich muss sich die Politik ständig fragen:
Ist es verfassungsrechtlich noch zulässig, diese oder jene Maßnahme
aufrechtzuerhalten? Bisher wurde das auch für die Geimpften pauschal
mitbeantwortet - weil niemand wusste, wie ansteckend sie sind. Neue
Erkenntnisse dürften es nötig machen, genauer zu differenzieren.

Ist das nicht ungerecht den Ungeimpften gegenüber?

In der Tat hatte bisher nur ein kleiner Teil der Bevölkerung eine
Chance, sich impfen zu lassen. Der Deutsche Ethikrat sieht daher in
einer Ad-hoc-Empfehlung von Anfang Februar die Gefahr, dass bei
Lockerungen für Geimpfte die Solidarität bröckeln könnte - mit
negativen Folgen für die Pandemiebekämpfung. Aber auch hier findet
sich bereits der Hinweis, dass bei geklärtem Ansteckungsrisiko
«individuelle Rücknahmen von Freiheitsbeschränkungen für geimpfte
Personen vorstellbar und gegebenenfalls geboten» seien.

Wie könnte sich Unruhe vermeiden lassen?

Der Ethikrat schlägt vor, weniger einschneidende Maßnahmen wie die
Abstandsregeln oder die Maskenpflicht in bestimmten Situationen für
alle in Kraft zu lassen. Das halten auch Rechtsexperten für eher
unbedenklich, denn hier ist der Grundrechtseingriff vergleichsweise
gering. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass bei Lockerungen für
Einzelne Chaos entsteht und Kontrolleure jeden Überblick verlieren.
Auch Spahn will daran und an den Hygiene-Regeln festhalten. Denn das
RKI geht zwar davon aus, dass sich Geimpfte viel seltener anstecken
und wenn doch, dann selbst weniger ansteckend sind - dennoch müsse
davon ausgegangen werden, dass einige von ihnen infektiöse Viren
ausscheiden. Schutzmaßnahmen müssen also sein. Aber, so Spahn: «Wer
vollständig geimpft wurde, kann beim Reisen oder beim Einkaufen wie
jemand behandelt werden, der ein negatives Testergebnis hat.»

Wie sind diese Pläne rechtlich zu bewerten?

Viele Juristen halten diese und andere Erleichterungen sogar für
zwingend. Schwere Grundrechtseingriffe wie zum Beispiel die zeitweise
Schließung eines Friseursalons seien bei Personen, von denen keine
Gefahr mehr ausgehe, «nicht mehr zu rechtfertigen», heißt es in einem

Papier des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags von Ende
Januar. Auch Ausgangssperren, Kontaktverbote oder Quarantäne-Auflagen
für Geimpfte sind für Experten tabu. Der Gießener Jura-Professor
Steffen Augsberg fordert die Landesregierungen auf, in ihren
Verordnungen so schnell wie möglich Ausnahmen vorzusehen. «Und wenn
sie das nicht tun, müssen die Gerichte einschreiten», sagte er dem
Fachportal «Legal Tribune Online». Er rechnet Geimpften auch gute
Chancen aus, etwa die Möglichkeit zum Theaterbesuch einzuklagen.

Gibt es schon solche Gerichtsentscheidungen?

Bisher waren die Gerichte in dem Punkt sehr vorsichtig, aber
möglicherweise setzt gerade ein Umdenken ein: Aktuell kämpft ein
Seniorenzentrum in Südbaden darum, seine Cafeteria für geimpfte wie
genesene Bewohner und Mitarbeiter wieder öffnen zu dürfen. Der
Verwaltungsgerichtshof in Mannheim hatte das zunächst abgelehnt - um
nun nachträglich doch einen Vergleichsvorschlag zu unterbreiten,
wegen der neuen RKI-Einschätzung. Noch ist unklar, ob Heim und
Landratsamt darauf eingehen. Sonst wird das Bundesverfassungsgericht
demnächst entscheiden. Dort ist der Fall bereits anhängig.