Rechtsmediziner mit dem Boogie im Blut Von André Klohn, dpa

Auf seinem Tisch liegen die Opfer von Mord und Totschlag. Rund 3000
Leichen hat der Kieler Rechtsmediziner Claas Buschmann bereits
obduziert. Er hilft dabei, Kriminalfälle aufzuklären. Und privat haut
er mächtig in die Tasten.

Kiel (dpa/lno) - Wer auf dem Behandlungstisch von Claas Buschmann
landet, für den kommt definitiv jede Hilfe zu spät. Der ist nicht
einfach nur tot, sondern allem Anschein nach keines natürlichen Todes
gestorben. «Das Schlimme an der Rechtsmedizin sind nicht die Toten,
das sind die Lebenden», sagt Buschmann. Der habilitierte Arzt ist
seit Februar stellvertretender Direktor des Instituts für
Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein in Kiel.
Ende März erschien sein erstes Buch «Wenn die Toten sprechen:
Spektakuläre Fälle aus der Rechtsmedizin».

Laut Statistikamt Nord sterben im nördlichsten Bundesland jedes Jahr
etwa 35 000 Menschen. Natürlich landet nicht jede Leiche in der
Rechtsmedizin. Buschmann kommt im Auftrag der Staatsanwaltschaft aber
dann zum Einsatz, wenn Morde, Suizide oder Kunstfehler-Vorwürfe zu
untersuchen sind. Sein Telefon klingelt manchmal auch nachts. «Wenn
irgendwo eine Leiche gefunden wird», sagt Buschmann. Bei Bereitschaft
habe er deshalb nicht nur das Smartphone, sondern immer auch ein Auto
da.

Fast wie im Fernseh-«Tatort». Einiges stimme in Filmen meist jedoch
nicht, sagt Buschmann. «Was man aus dem Fernsehen kennt: Die Ehefrau
kommt in die Rechtsmedizin. Die Bahre wird rausgezogen. Sie schreit:
«Er ist es.» Das gibt es nicht. Das hat sich ein Drehbuchautor vor
vielen Jahren ausgedacht.» Auch unterdrücke er seinen Geruchssinn bei
der Arbeit nicht. Der liefere wichtige Informationen. «Das
Fernseh-Zerrbild von unserem Beruf stimmt nicht.»

Buschmann wirkt lebensfroh. Seine Hamburger Herkunft hört man ihm
trotz langer Zeit in Berlin deutlich an. Nach seiner Familie sei der
Jazz seine zweite Leidenschaft. «Ich kann bis heute an Klavieren
schlecht vorbeigehen.» Der Autodidakt tritt als «Dr. Boogie»
gelegentlich als Jazzpianist solo oder auch mit Band auf. «Also
eigentlich eher als Pausenclown.» Er sei weit entfernt von einem
ausbildeten Konzertpianisten.

Im Februar wechselte Buschmann nach 14 Jahren an der Berliner Charité
nach Kiel. Rund 3000 Leichen hat der 44-Jährige in seinem Berufsleben
gesehen - tragische Unfälle, brutale Morde und tödliche Krankheiten.
Er wird oft gefragt, wie er es mit den Toten aushält. «Ich habe lange
Rettungsdienst gemacht und gesehen, wie es ist mit Menschen zu
arbeiten, die einem in den Armen sterben, die vor den eigenen Augen
verbrennen. Das ist furchtbar und das möchte ich nie wieder erleben.»
Es sei für ihn keine Belastung, seit 2007 mit Leuten zu arbeiten,
«die es hinter sich haben».

Zwischen einer und vier Obduktionen erfolgen Tag für Tag in der
Kieler Rechtsmedizin. Nicht immer trat der Tod erst vor kurzer Zeit
an. Einige Leichen lagen wochenlang in der Wohnung. An deren Geruch
beim Aufschneiden der Körper gewöhne man sich, sagt Buschmann. Als
Vergleich nennt er die volle Biotonne in der Sommerhitze. Die
Klimaanlage im Institut helfe.

Buschmann hat geholfen, Mörder und Versicherungsbetrüger zu
überführen. Besonders in Erinnerung ist ihm sein Einsatz nach dem
Anschlag auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz 2016.
«Der Attentäter Anis Amri hat es ganz offensichtlich beherrscht, dass
an diesem Anschlagsort eine große Symbolik entstanden ist.» Die
Gedächtniskirche, Weihnachtsbäume, zerstörte Engel und zerbrochene
christliche Symbole. «Mittendrin ein schwarzer Laster wie aus der
Hölle, als wenn die Erde sich auftut und einen solchen LKW ausspuckt.
Zerstörte Leichen und alles stinkt nach Glühwein.»

Ob dies sein schwerster Fall war, vermag Buschmann nicht zu
beantworten. «Ist ein dreijähriges Kind, das stirbt, schlimm oder ist
ein Familienvater, der nicht von der Arbeit nach Hause kommt, schlimm
oder schlimmer?» Medizin ist nicht immer nur schön. «Wenn man sich
mit den schönen Dingen des Lebens beschäftigen will, sollte man
besser Künstler werden.»

Zweimal bereits landeten auf dem Tisch des Rechtsmediziners Leichen,
die er gekannt hatte. «Das erste Mal habe ich den Toten gar nicht
erkannt, weil der so fäulnisverändert war», sagt Buschmann. Unweit
seiner Berliner Wohnung habe er in seiner Stammkneipe regelmäßig
Fußball geschaut. «Da saß am Tresen immer ein älterer Mann, schwer

alkoholkrank, aber nie ausfällig.» Irgendwann habe Manni nicht mehr
dort gesessen. Wie sich herausstellte, hatte der Biertrinker
wochenlang tot im Hochsommer in seiner Wohnung gelegen und Buschmann
selbst habe den Leichnam obduziert. «Der war nicht mehr zu erkennen.»

Im anderen Fall handelte es sich um einen Partygast. «Der ist mir in
Erinnerung geblieben, weil er so unheimlich viel Blödsinn erzählt hat
und offensichtlich auf Droge war», sagte Buschmann. «Ein halbes Jahr
später lag er dann bei mir auf Tisch - auch faul aus der Wohnung;
wegen Drogen.» Noch nicht beantwortet hat sich Buschmann die Frage,
ob er auch wissentlich einen Bekannten oder ein Familienmitglied
obduzieren würde.

Schwieriger wird es für den Rechtsmediziner in den wenigen Momenten,
in denen er doch Kontakt mit Angehörigen hat. Vor Jahren habe er als
Gutachter im Prozess um einen bestialischen Mord unter Studenten
ausgesagt, sagt Buschmann. Während seiner Ausführungen zu der
tödlichen Attacke in der WG sei es im Gerichtssaal mucksmäuschenstill
gewesen. «Als ich das Gericht verließ, fragte mich ein Mann, ganz
offensichtlich der Vater der Studentin: Hat sie gelitten?» Buschmann
musste die Frage leider bejahen. «Ich habe kurz zuvor im Saal ja auch
eine Dreiviertelstunde genau erzählt, warum das so war. Das Schlimme
an der Rechtsmedizin sind nicht die Toten, das sind die Lebenden -
nämlich solche Momente.»