Krise der Opposition: Johnsons Fehler nutzen Labour nichts Von Larissa Schwedes, dpa

In kaum einem Land sind so viele Menschen an Covid-19 gestorben wie
in Großbritannien. Ein planloser Zick-Zack-Kurs der Regierung
lieferte reichlich Munition für die Opposition. Doch dann wendete
sich das Blatt.

London (dpa) - Etwa 150 000 Corona-Tote, eine Debatte um
Polizeigewalt und ein herber Einbruch der Exporte nach dem Brexit:
Angriffspunkte, um die Regierung zu kritisieren, gibt es in
Großbritannien genug für die Opposition. Und mindestens einmal in der
Woche ist Keir Starmer, dem Chef der Labour-Partei, auch die
Aufmerksamkeit sicher: Jeden Mittwoch, pünktlich zur Mittagszeit, hat
der Oppositionsführer bei den «Prime Minister's Questions» sechs
Fragen an Boris Johnson frei - live übertragen von den großen
Nachrichtensendern.

Meist sorgfältig ausgestattet mit Statistiken versucht der 58 Jahre
alte Starmer seit einem Jahr Woche für Woche, den Premierminister
anzugreifen und Fehlentscheidungen offenzulegen. Doch schaut man in
die Umfragewerte, scheinen die meisten Angriffe abzuperlen wie
Regentropfen von einem Schirm. Derzeit liegt die konservative
Tory-Partei in Meinungsumfragen acht bis zehn Punkte vor Labour. Der
Tendenz nach nimmt der Vorsprung noch zu.

Spätestens seit sich im Februar der Erfolg der britischen
Impfkampagne abzeichnete und sich die Corona-Lage deutlich
entspannte, vergrößert sich der Abstand. «Die Regierung hat Glück
gehabt, dass ihr Erfolg in der späten Phase der Pandemie kam», sagt
Politik-Experte Nigel Fletcher vom King's College London. «Die Sorge
für Labour ist, dass das das Bild ist, was bleibt.»

Ein Jahr nach seinem Antritt als Parteichef am 4. April 2020 hat
Starmer den ersten Höhen- und Sinkflug bereits hinter sich: Im Herbst
und Winter sah es noch besser aus für ihn. Der Labour-Chef und seine
Partei trieben Johnson vor sich her und forderten härtere
Corona-Maßnahmen, die erst von der Regierung abgelehnt und dann
wenige Wochen später fast genauso umgesetzt wurden.

Im November überholte Labour die Tories sogar in den Umfragen. Viele
wünschten sich lieber den besonnenen Starmer als Premier. Doch die
Stimmung hat sich gedreht. Derzeit tourt ein stolzer Johnson fast
wöchentlich durch die Impfzentren des Landes, verkündet neue
Meilensteine im Kampf gegen das Virus und verteidigt einen
«vorsichtigen, aber unwiderruflichen» Weg aus dem Lockdown.

«Labour hat einen wirklich schwierigen Job zurzeit», meint Tim
Durrant von der Denkfabrik Institute for Government. «Die Menschen
wollen zurzeit keine großartigen politischen Auseinandersetzungen.
Sie wollen Lösungen für die Krise.» Starmer, dessen erstes Jahr
vollständig in die Zeit der Krisenbewältigung fällt, hatte gleich zu

Beginn «konstruktive Opposition» angekündigt. So weit, so konstruktiv

- doch an Profil gewinnen lässt sich so nur schwierig.

Bei der Unterhauswahl 2019 hatte Labour - damals noch unter dem
Alt-Linken Jeremy Corbyn - das schlechteste Ergebnis seit Jahrzehnten
erzielt. Eine unklare Position zum Brexit und Antisemitismus-Vorwürfe
kosteten Stimmen. Seit dem Wechsel an der Spitze sind solche Vorwürfe
in den Hintergrund gerückt. «Starmer war sehr erfolgreich darin,
Labour wieder in den politischen Mainstream zu bringen», stellt
Fletcher fest. Viele hatten erwartet, dass das länger dauert.

Noch ist unklar, was der Brexit in den nächsten Jahren für das
Vereinigte Königreich konkret bedeutet. Doch dieses Fass will Labour
nicht wieder aufmachen, auch weil die Partei vor allem in den
klassischen Arbeiterregionen im Norden Englands - «Red Wall» genannt
- viele Sitze verlor. Dort die Zustimmung zum Brexit besonders
ausgeprägt. «Man kann nicht damit gewinnen, alte Wunden zu öffnen»,

meint Durrant.

Doch eine klare Vision, wie Großbritannien unter einer
Labour-Regierung aussehen könnte, fehlt bislang. Starmer, ein
ehemaliger Chef-Ankläger des Crown Prosecution Service, ist kein Mann
der Luftschlösser oder durchschlagenden Gags. Er will mit
Sachkenntnis und Argumenten überzeugen - weshalb ihm der Premier
immer wieder die Show stiehlt.

Johnson beherrsche es, auch Menschen anzuziehen, die normalerweise
nicht konservativ wählten, sagt Fletcher. «Sie können als Opposition

so gut aussehen, wie Sie wollen. Wenn die Regierung populär ist,
können Sie das nicht ändern.» Die nächste reguläre Wahl ist 2024.