Der Dauerstreit um Astrazeneca Von Sandra Trauner und Sascha Meyer, dpa

Schon wieder Wirbel bei den Corona-Impfungen: Einzelne Bundesländer
stoppen den Einsatz des Mittels von Astrazeneca für Jüngere. Was ist
der Grund dafür - und wie soll es mit den Impfungen weitergehen?

Berlin (dpa) - Eigentlich sollten die Corona-Impfungen mit dem
Präparat von Astrazeneca endlich Fahrt aufnehmen - und nun das. Nach
einigen vorsorglichen Warnungen unter anderem aus großen Kliniken
preschte am Dienstag zunächst das Land Berlin vor und setzte den
Einsatz von Astrazeneca für Menschen unter 60 Jahre vorerst aus.
Dabei gab es mit dem Mittel schon so viel hin und her: zugelassen,
eingeschränkt, erweitert, ausgesetzt, wiederaufgenommen. Über das
weitere Vorgehen wollten Impfexperten, Bund und Länder beraten. Klar
ist: Die gesamte schwierige «Impfkampagne» wird nicht einfacher.

Was ist das Problem?

Berlins Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) sprach von einer
«Vorsichtsmaßnahme». Wieder geht es um Auffälligkeiten mit Fällen
von
Blutgerinnseln (Thrombosen) in Hirnvenen in zeitlichem Zusammenhang
zu Impfungen, die vor allem bei jüngeren Frauen gemeldet wurden. Erst
Mitte März hatte die Bundesregierung alle Astrazeneca-Impfungen nach
einer Empfehlung des zuständigen Paul-Ehrlich-Instituts (PEI)
ausgesetzt - wie mehrere andere Länder auch. Nach erneuten Prüfungen
der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) gaben Bund und Länder nach
vier Tagen Pause dann wieder grünes Licht - aber verbunden mit neuen
Warnhinweisen für Ärzte und Patienten auf das Thrombose-Risiko.

Worum geht es genau?

Es gibt Verdachtsfälle für eine spezielle Form von sehr seltenen
Hirnvenenthrombosen (Sinusvenenthrombosen) in Verbindung mit einem
Mangel an Blutplättchen (Thrombozytopenie). Das
Paul-Ehrlich-Institut, das solche Meldungen sammelt, konstatiert in
seinem Sicherheitsbericht «eine auffällige Häufung» in zeitlicher
Nähe zu Impfungen mit Astrazeneca.

Wie viele Verdachtsfälle gibt es bislang?

Dem Institut wurden bis Montagmittag 31 Verdachtsfälle einer
Sinusvenenthrombose nach Impfung mit dem Corona-Impfstoff von
Astrazeneca gemeldet. In 19 Fällen wurde zusätzlich eine
Thrombozytopenie gemeldet. In neun Fällen war der Ausgang tödlich.

Was weiß man über diese Verdachtsfälle?

Mit Ausnahme zweier Fälle betrafen alle Meldungen Frauen im Alter von
20 bis 63 Jahren. Die beiden Männer waren 36 und 57 Jahre alt. Laut
Impfquotenmonitoring des Robert-Koch-Instituts (RKI) wurden bis
einschließlich Montag 2,7 Millionen Erstdosen und 767 Zweitdosen von
Astrazeneca verimpft.

Wie häufig ist diese Komplikation?

Gemeldet wurde dem Paul-Ehrlich-Institut etwa ein Fall pro 100 000
Astrazeneca-Impfungen (Stand 19. März). Das ist wenig, aber dennoch
häufiger als zu erwarten wäre, denn in der Normalbevölkerung ist es
noch seltener: «Diese sehr seltene Gerinnungsstörung trat unter den
Geimpften häufiger auf, als es zahlenmäßig aufgrund der Seltenheit
dieser Gerinnungsstörung ohne Impfung zu erwarten wäre.»

Wie entstehen solche Thrombosen?

Andreas Greinacher von der Universitätsmedizin Greifswald zufolge
könnten in seltenen Einzelfällen über die Immunantwort des Körpers

die Blutplättchen aktiviert werden. Auch andere Forscher vermuten,
dass die Bildung der Gerinnsel über eine starke Immunantwort und
dabei entstehende Antikörper, die an die Blutplättchen andocken und
diese aktivieren, laufen könnte.

Ist die Impfung die Ursache?

«Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht klar, ob es einen kausalen
Zusammenhang zwischen der Impfung und den Berichten über
Immunthrombozytopenie gibt», heißt es beim PEI. Bisher gebe es keinen
Nachweis, dass das Auftreten dieser Gerinnungsstörungen durch den
Impfstoff verursacht wurde. Es würden aber weitere Untersuchungen
durchgeführt, um das aufzuklären.

Wie haben die Behörden die Sache bislang beurteilt?

Für die Europäische Behörde EMA sind die Vorteile des Vakzins
deutlich größer als die Risiken. Es wurde aber beschlossen, zu diesen
sehr seltenen Ereignissen einen Warnhinweis in die Fach- und
Gebrauchsinformationen aufzunehmen.

Wieso gibt es keine Klagen aus anderen Ländern?

Dem Paul-Ehrlich-Institut zufolge werden mehr Verdachtsfälle nach
Astrazeneca gemeldet als für die anderen Impfstoff-Produkte. Daraus
könne man aber «nicht zwangsläufig auf eine höhere Reaktogenität
des
Impfstoffes geschlossen werden», berichtet das Institut. Die erhöhte
Melderate könne «auch mit der erhöhten medialen Aufmerksamkeit»
zusammenhängen.

Wie es in Großbritannien, wo viel Astrazeneca eingesetzt wird?

In Großbritannien sind laut Aufsichtsbehörde für Arzneimittel (MHRA)

bis Mitte März vier Fälle von Hirnvenenthrombosen aufgetreten, keine
davon soll tödlich verlaufen sein. Insgesamt sind bereits Millionen
Menschen mit dem Impfstoff geimpft worden. Mehr als 30 Millionen
Menschen in Großbritannien haben mittlerweile eine erste Dosis
erhalten - entweder Biontech oder Astrazeneca. Da die Impfkampagne
schon weit vorangeschritten ist, werden zurzeit 50- bis 59-Jährige
geimpft. Großbritannien hatte zu keinem Zeitpunkt die Impfungen mit
Astrazeneca pausiert. Angesichts der großen Zahl verabreichter Dosen
und der Häufigkeit, mit der Blutgerinnsel auf natürliche Weise
aufträten, gebe es keinen Anlass für einen Stopp, so die MHRA.

Welche Rolle spielt die Altersgruppe?

Bei den Altersempfehlungen für Astrazeneca gab es inzwischen schon
Änderungen. Die Ständige Impfkommission (Stiko) hatte das Mittel
zuerst nur für Menschen unter 65 Jahre empfohlen - wegen mangelnder
Studiendaten für Ältere. Etwas später wurde dies aber aufgehoben und

die Impfung für alle ab 18 empfohlen. Im Licht der jüngsten Fälle
beriet das Gremium nun darüber, das Mittel erst ab 60 zu empfehlen.
So sah es ein Entwurf vor. Überhaupt geimpft wurden bisher Menschen
aus zwei Gründen: wegen ihres Alters oder wegen ihres Berufs, etwa im
Gesundheitswesen oder im Bildungswesen. Wegen der Stiko-Empfehlung
bekamen Ältere eher Biontech/Pfizer, Jüngere eher Astrazeneca.

Wie geht es weiter?

Die Auswirkungen für den Fortschritt der Corona-Impfungen insgesamt
waren vorerst unklar. Astrazeneca spielt allerdings eine wichtige
Rolle, auch für die nach Ostern angestrebte stärkere Einbeziehung der
Arztpraxen. Im ganzen Jahr werden mehr als 56 Millionen Dosen
erwartet. Die Deutsche Stiftung Patientenschutz forderte: «Damit die
Impfkampagne endlich Fahrt aufnehmen kann, müssen Impfwillige die
Wahlfreiheit bei den Seren erhalten.» Doch damit dürfe nicht die
ethische Reihenfolge beim Impfangebot aufgegeben werden, sagte
Vorstand Eugen Brysch. «Sonst kommen immobile, schwerstkranke und
pflegebedürftige Menschen unter die Räder.»