Steinmeier und die corona-erschöpfte Republik Von Ulrich Steinkohl, dpa

Ein Jahr Bedrohung durch das Coronavirus, ein Jahr Lockdown - das
macht etwas mit den Menschen. Doch was genau? Dieser Frage will der
Bundespräsident in seiner Veranstaltungsreihe «Bürgerlage» auf den

Grund gehen. Er bekommt Beunruhigendes zu hören.

Berlin (dpa) - Ganz hat Katrin Andres der Mut noch nicht verlassen.
«Die Hoffnung stirbt zuletzt, und wir kämpfen weiter», sagt die
Hoteliersfrau am Dienstag in einer Videoschalte mit Bundespräsident
Frank-Walter Steinmeier. Doch zuvor wurde bereits überdeutlich, dass
von ihrem Mut nach monatelangem Stillstand in ihrem Hotel «Zur Post»
in Freyung im Bayerischen Wald nicht mehr viel übrig ist. Das zeigen
Sätze wie: «Die Nerven liegen eigentlich blank». Oder: «Es ist halt

aussichtslos.» Und: «Es ist im Moment so, dass unser ganzer
Optimismus weg ist.»

Schon zum dritten Mal sprechen sieben Frauen und Männer an diesem
Dienstag mit dem Bundespräsidenten. «Bürgerlage» hat Steinmeier
dieses Veranstaltungsformat genannt, in dem er eine Art
Langzeitstudie in der Corona-Pandemie betreibt. Er schaltet sich
immer wieder mit denselben Menschen zusammen, um ihre Situation und
Stimmung zu ergründen. Man wolle, so Steinmeier, miteinander «im
Längsschnitt» erfragen: «Wie verändert Corona, wie verändert eine

Gesundheitskrise unser Land, wie verändert es vor allen Dingen die
Menschen?»

Schnell wird bei dieser dritten Runde deutlich: Die Bürger befinden
nach monatelangem Lockdown zunehmend in einem Erschöpfungszustand.
Das gilt nicht nur für Hoteliersfrau Andres, die besonders
frustriert, dass ihre Branche im jüngsten Beschluss von Kanzlerin und
Ministerpräsidenten noch nicht einmal erwähnt wird. Sie sagt: «Wir
haben wirklich um Moment keinen Antrieb und sind richtig am Boden.»

Von Erschöpfung berichtet auch Maxi Brautmeier-Ulrich dem
Bundespräsidenten. Sie leitet eine Grundschule in Paderborn. Schule
auf, Schule zu, Wechselunterricht - das zehrt an den Nerven. «Wir
halten alle tapfer durch, aber es geht uns so langsam die Puste aus»,
sagt sie. «Das gilt für die Erwachsenen, aber das gilt auch und noch
viel mehr für die Kinder.» Normalerweise wendeten die Lehrerinnen und
Lehrer im ersten und zweiten Jahr viel Zeit dafür auf, um die Kinder
in der Schule aufzunehmen, Sozialverhalten zu entwickeln und ihnen
beizubringen, miteinander empathisch umzugehen und sich an Regeln zu
halten. «Das fällt alles, alles weg.» Die Schulleiterin warnt: «Da

entstehen Schäden, die wir kaum mehr gut machen können.»

Norbert Vos aus Stadtlohn in Nordrhein-Westfalen beobachtet eine
«sehr heikle Situation, was die Stimmung angeht in Deutschland».
Seine größte Sorge sei, «dass die Leute eventuell bald auf die
Straßen gehen und richtig Randale machen». Vos organisiert
ehrenamtlich Jugendfreizeiten. Für diesen Sommer hat er sie
angesichts der dritten Pandemiewelle aber fast schon abgeschrieben.

Und auch Stanislaw Majewski glaubt kaum noch an einen entspannten
Sommer. Er denke realistisch, sagt der junge Mann aus Berlin dem
Bundespräsidenten. «Und ich glaube nicht, dass das dieses Jahr noch
was wird mit schön Grillen im Sommer mit der Familie, mit Freunden.»
Doch Steinmeier verbreitet am Ende etwas Optimismus. Diese Runde
solle nicht die letzte sein, sagt er. «Und ich gebe die Hoffnung
nicht auf, dass wir vielleicht noch nicht die nächste, aber die
übernächste dann hier in Berlin bei Kaffee und Kuchen miteinander
veranstalten können.»