Corona-Krise: Will Merkel jetzt auf die Kommandobrücke? Von Anne-Béatrice Clasmann, Martina Herzog und Stefan Hantzschmann, dpa

Immer mehr Bürger geben dem staatlichen Krisenmanagement schlechte
Noten. Auch mit der Art, wie Merkel und die Ministerpräsidentenrunde
Entscheidungen fällen, sind viele unzufrieden. Die Kanzlerin hat
jetzt mal einen Testballon aufsteigen lassen.

Berlin (dpa) - Angesichts steigender Infektionszahlen denkt
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) über striktere Vorgaben für die
Länder bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie nach. Zumindest was die
Anordnung und Umsetzung von Schließungen und Kontaktbeschränkungen
angeht. Innenminister Horst Seehofer (CSU) pflichtet ihr bei. Was
heißt das jetzt konkret für das zuletzt viel kritisierte
Krisenmanagement von Bund und Ländern? Die wichtigsten Fragen und
Antworten: 

Wie ist die aktuelle Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern?

«Laut Grundgesetz sind die Länder für die Ausführung der meisten
Gesetze zuständig», sagt der Verfassungsrechtler Christoph Gusy von
der Universität Bielefeld. «Wie sie diese interpretieren, das liegt
dann bei ihnen. Je unbestimmter das Gesetz, desto größere Spielräume

haben die Länder.»

Das ist auch bei der Pandemiebekämpfung so. Einen Rahmen setzt das
Infektionsschutzgesetz, das während der Corona-Krise überarbeitet
wurde. Innerhalb dessen bleibt aber noch einiges an Spielraum für die
Länder. Die Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenzen sind
politische Vereinbarungen. Rechtlich bindend werden sie erst durch
die Umsetzung in Länderverordnungen - und hier halten die Länder sich
nicht immer an die gemeinsame Linie.

Wie könnte das Infektionsschutzgesetz geändert werden?

Dafür gäbe es mehrere Hebel - welchen und ob die Kanzlerin einen
davon im Kopf gehabt hat, darüber rätseln auch Juristen. Einer wäre
laut Gusy Artikel 84 des Grundgesetzes, über den der Bund versuchen
könnte, den Ländern Vorschriften zu machen. «Demnach kann er den
Ländern in Ausnahmefällen genaue Vorgaben machen, von denen sie nicht
abweichen dürfen», sagt Gusy. Allerdings müsste der Bundesrat - und
damit wiederum die Länder - dem zustimmen.

Der Verfassungsrechtler Michael Brenner von der Universität Jena
erklärt, der Bund könne relativ einfach das Infektionsschutzgesetz
verschärfen oder auch ein eigenes Covid-19-Bekämpfungsgesetz oder
ähnliches erlassen. «Der Bundesrat muss beteiligt werden, aber
letztendlich kann er es nicht verhindern», sagt Brenner. Demnach
handele es sich nicht um ein Zustimmungsgesetz, für das der Bundesrat
grünes Licht geben muss, sondern um ein Einspruchsgesetz. Bei einem
Einspruchsgesetz könne der Bundesrat zwar Einspruch einlegen. «Der
kann aber wiederum vom Bundestag beiseite geschoben werden, wenn der
Bundestag den Einspruch des Bundesrates zurückweist.»

«Das heißt: Der Bund könnte selber entsprechende Maßnahmen
ergreifen», erklärt Brenner. Diese Maßnahmen müssten dann auch durc
h
die Länder vollzogen werden. «Man hätte dann vielleicht nicht mehr
diesen 16-teiligen Flickenteppich, der im Moment ein bisschen
hinderlich erscheint.» Eine Art Durchregieren des Bundes über
Rechtsverordnungen hält Brenner indes nicht für ein geeignetes
Mittel. «Alles Wesentliche muss durch ein Gesetz geregelt werden und
kann nicht durch eine Verordnung geregelt werden. Das heißt, so
grundrechtsrelevante Aspekte müssen eigentlich schon in einem Gesetz
geregelt werden.»

Warum sollten die Länder Macht abgeben?

«Es gibt Länder, die sehr selbstbewusst sind und sich ungern vom Bund
hereinregieren lassen, und es gibt andere Länder, die ganz zufrieden
damit sind, im Kielwasser des Bundes mitzuschwimmen», sagt Gusy. «Die
großen Länder gehören eher zur ersten, die kleinen eher zur zweiten
Gruppe - auch wenn der bayerische Ministerpräsident Markus Söder
jetzt Merkel unterstützt.»

Gäbe es für mehr Bundes-Krisenmanagement Rückhalt im Bundestag?

SPD und FDP wollen erst einmal ganz genau wissen, was Merkel da genau
vorschwebt. Die Grünen hingegen sehen sich in ihren Rufen nach einem
Stufenplan mit genauen Vorgaben in Abhängigkeit vom
Infektionsgeschehen bestätigt. Von der AfD wäre ohnehin keine
Zustimmung zu erwarten.

Ist das, was Merkel da andeutet, ein grundsätzlicher Wechsel?

Nein, ein generelles Umschalten in einen Krisenmodus, in dem etwa
auch die Zuständigkeit für die Beschaffung von Impfstoff, die
Organisation von Impfungen und Massentests grundsätzlich neu verteilt
würde, plant niemand. Auch Merkel geht es nur um Eindämmung durch
Auflagen für das Alltags- und Arbeitsleben. Die Frage, ob sie ein
Durchgriffsrecht für die Bundesregierung fordere, weist sie deutlich
zurück. «Nein, das würde ja Verfassungsänderungen bedeuten, für d
ie
man überhaupt gar keine Mehrheit bekommt.» Den aus mehreren
Bundesministerien besetzten Krisenstab will sie beibehalten, zudem
gebe es ja bereits Taskforces für die Beschaffung von Tests, zur
Maskenproduktion oder die künftige Impfstoffproduktion. Aus all dem
wird deutlich - Merkel würde zwar die Länder gern stärker an die
Leine legen, aber nicht das gesamte Pandemiemanagement vom Kopf auf
die Füße stellen.

Wie läuft es in Ländern, wo die Zentralregierung am Ruder ist?

In Frankreich, wo der Inzidenzwert aktuell deutlich höher liegt als
in Deutschland, kommen die Ansagen in Sachen Pandemie-Bekämpfung
grundsätzlich aus Paris. Die Regeln, die für die einzelnen
Verwaltungsbezirke gelten, fallen dabei je nach Infektionszahlen vor
Ort aber unterschiedlich aus und sind teilweise viel drastischer als
hierzulande. Die Schulen sind in Frankreich aber zurzeit landesweit
geöffnet. Blickt man in weitere EU-Länder, so stellt man fest, dass
womöglich andere Faktoren wichtiger sind als die Frage, wer auf der
Kommandobrücke steht. Nämlich wie stark staatlich angeordnete
Maßnahmen kontrolliert werden. Und ob sie von der überwältigenden
Mehrheit der Bürger für sinnvoll gehalten werden oder nicht.

Wie steht Deutschland da in der Pandemie-Bekämpfung?

Insgesamt gar nicht so schlecht, vor allem wenn man auf die Zahl der
Menschen schaut, die in Zusammenhang mit einer Covid-19-Erkrankung
gestorben sind. Pro 100 000 Einwohner starben in Deutschland
beispielsweise deutlich weniger Menschen als in den USA, in
Tschechien oder Belgien.

Schaut man auf die drei Säulen der Pandemie-Bekämpfung - Verbote und
Einschränkungen, Massentests und Impfung - spielt Deutschland
allerdings nicht überall in der ersten Liga mit. Kostenlose
Schnelltests und Selbsttests für alle waren in Österreich schon
Alltag, als in Deutschland noch umständlich darüber diskutiert wurde,
wer sich für die Beschaffung zuständig fühlen sollte. Staaten wie
Israel und Großbritannien haben vorgemacht, wie man mit beherzter
Beschaffung und cleverer Organisation den Impf-Turbo einschalten
kann, um früher aus der Krise zu kommen. Auf dramatische
Freiheitsbeschränkungen ist hierzulande weitgehend verzichtet worden
- allerdings, so komplex und kompliziert wie in Deutschland sind die
Bestimmungen in kaum einem anderen Land.