Attacke bei «Anne Will» - Merkel liest den Länderchefs die Leviten Von Martina Herzog und Ulrich Steinkohl, dpa

Ein Dauergast in den Talkshows des Landes ist die Kanzlerin nicht.
Wenn sie diese Bühne sucht, dann gezielt. Bei «Anne Will» am
Sonntagabend geht sie in die Offensive. Der Auftritt zeigt aber auch
sehr deutlich die Grenzen ihrer Macht.

Berlin (dpa) - In den letzten Stunden einer desaströsen Woche
schaltet Angela Merkel auf Angriff. Resolut und gut sortiert
buchstabiert die Kanzlerin den Regierungschefs der Länder aus Anne
Wills Talkshow-Sessel heraus vor, wo genau sie gegen die gemeinsamen
Corona-Beschlüsse verstoßen. Und zwar insbesondere dort, wo sie nicht
die am 3. März vereinbarte «Notbremse» ziehen, sondern sogar noch mit

Lockerungen experimentieren. «Da, wo jetzt der Eindruck erzeugt wird,
wir können noch irgendwas öffnen - das ist im Augenblick nicht das
Gebot der Stunde», warnt sie bei ihrem Auftritt am Sonntagabend in
der ARD.

Die Kanzlerin droht, sie wirbt, sie argumentiert und macht auch vor
den eigenen Parteikollegen nicht halt. Wo Diskussionen hinter
verschlossenen Türen nicht mehr ausreichen, um den Corona-Kurs zu
verschärfen, setzt Merkel jetzt auf öffentlichen Druck.
NRW-Ministerpräsident und CDU-Chef Armin Laschet bescheinigt sie,
wenn auch erst auf erneutes Nachhaken der Interviewerin, einen
Verstoß gegen die Notbremse. Auch wenn er da nicht der Einzige sei.

Auch der Blick ins Saarland, wo mit Tobias Hans ebenfalls ein
CDU-Mann das Ruder führt, fällt pikiert aus. Das gesamte Land will er
nach Ostern öffnen. Obwohl, wie Merkel unterstreicht, die
Infektionszahlen dort nicht stabil seien. «Deshalb ist das nicht der
Zeitpunkt, jetzt so was ins Auge zu fassen.» Und noch etwas spitzer:
«Es ist vielleicht eine sehr gewagte Ankündigung gewesen.»

Auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller von der SPD
bekommt sein Fett weg: «Ich weiß jetzt wirklich nicht, ob Testen und
Bummeln, wie es jetzt in Berlin heißt, die richtige Antwort auf das
ist, was sich zur Zeit abspielt.»

Merkel wirft den Länderchefs vor, die Bund-Länder-Runden für
politische Spielchen zum eigenen Vorteil zu nutzen. «Wissen Sie, was
ich manchmal für ein Gefühl habe? Dass sich so eine Rollenverteilung
herausgebildet hat: Wir wissen schon, dass das Kanzleramt streng ist,
und deshalb können wir ein kleines bisschen lockerer sein.» Natürlich

gelte das nicht für alle, aber doch manchmal. Das dürfe man sich
nicht leisten, wo doch alle das gleiche Ziel hätten: «Dieses Land gut
durch die Pandemie zu bringen.»

Also, was tun? «Ich bin noch am Nachdenken», sagt Merkel. Der letzte
Montag - also die vergeigte Bund-Länder-Runde - sei noch nicht ewig
her. Sie bemerke ein Umdenken in den Ländern, wenn auch noch nicht
genug. Merkel spricht sich gegen eine vorgezogene neue
Ministerpräsidentenkonferenz aus, betont aber: «Ich werde jedenfalls
nicht zuschauen, dass wir 100 000 Infizierte haben.»

Merkel deutet an, dass der Bund aktiv werden könnte, wenn die Länder
nicht die nötigen Maßnahmen ergreifen sollten. «Wir müssen mit eine
r
großen Ernsthaftigkeit jetzt die geeigneten Maßnahmen einsetzen. Und
einige Bundesländer tun das, andere tun es noch nicht.» Wenn das
nicht «in sehr absehbarer Zeit» geschehe, müsse sie sich überlegen

wie sich das vielleicht auch bundeseinheitlich regeln lasse. Vierzehn
Tage wolle sie nicht warten. «Das ist mein Amtseid, das ist meine
Verpflichtung.» Ein Möglichkeit sei, «das Infektionsschutzgesetz noch

mal anzupacken und ganz spezifisch zu sagen, was muss in welchem Fall
geschehen».

Merkel weiß allerdings auch, dass sie auf die Länder angewiesen ist,
irgendwann für jeden Beschluss ein Mehrheit im Bundestag und
Bundesrat braucht. Aber: «Wir sind verpflichtet, qua Gesetz, das
Infektionsgeschehen einzudämmen. Und im Augenblick ist die Eindämmung
nicht da.»

Die nächtliche Ministerpräsidentenkonferenz vom vergangenen Montag
auf den Dienstag mit dem dann schnell wieder zurückgezogenen
Beschluss einer Osterruhe sei eine «Zäsur» gewesen, betont Merkel.
«Da kann es jetzt nicht einfach so weitergehen, wir treffen uns alle
vier Wochen und machen das genauso weiter.» Das sähen auch viele
Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten so.

Die Kanzlerin nennt die Anfang März vereinbarten stufenweisen
Öffnungsschritte einen Kompromiss - «mit Treu und Glauben darauf,
dass die Notbremse auch wirklich umgesetzt wird. Wenn sie das jetzt
nicht wird, ist das sozusagen ein Verstoß gegen die Beschlüsse, die
wir getroffen haben.»

Die bisherigen Beschlüsse mit den Ministerpräsidenten böten alle
nötigen Instrumente, betont Merkel: schärfere Kontaktbeschränkungen
ebenso wie notfalls Ausgangsbeschränkungen und die Verpflichtung der
Arbeitgeber, wo immer möglich Homeoffice anzubieten.

Merkel glaubt an die Kraft von Fakten und Daten, sie gilt als
Aktenfresserin. Bei allem Willen zur Pandemiebekämpfung: «Noch nicht
alle sind so illusionsfrei, dass dieses Virus nicht mit sich
verhandeln lässt und dass die Situation jetzt ernst ist.» Die
Entscheidung im Herbst, der zweiten Welle etwas entgegen zu setzen,
sei schon «etwas verzögert» gefallen, was sehr viel Zeit und sehr
viel Kraft gekostet habe, wie Merkel sagt. «Und jetzt bei der dritten
Welle deutet sich das wieder an».

Sie lag richtig mit ihren Warnungen und Prognosen zur Corona-Kurve,
auch damals im Herbst. Das «ganze Faktenmaterial», es sei ja bekannt,
sagt Merkel. «Das haben wir alles parat. Die Frage ist nur: Kommen
wir zu den gleichen Schlussfolgerungen?» Beantworten müssen das nun
die Ministerpräsidenten.