Pandemie, na und? - Warum der Bruch von Corona-Regeln um sich greift Von Sandra Trauner, dpa

Die neuen Corona-Regeln sind kompliziert. Die Motivation, sie zu
befolgen, lässt nach. Wo kommt das her und was kommt damit auf uns
zu?

Marburg (dpa) - Mehrere Freunde gleichzeitig einladen, die
Kosmetikerin ins Haus bestellen, den Kurzurlaub als Dienstreise
ausgeben - viele Menschen betrachten die Corona-Verbote lediglich als
Empfehlung. Die gelockerten Bestimmungen dürften die Menschen zu noch
mehr Nachlässigkeit verleiten, befürchten nicht nur Virologen und
Epidemiologen. Wer von «Pandemiemüdigkeit» spreche, unterschätze da
s
Ausmaß des Dilemmas, sagt der Marburger Sozialpsychologe Prof. Ulrich
Wagner.

Es gibt Menschen, die bleiben an roten Ampeln stehen - auch wenn kein
Auto kommt und es mitten in der Nacht ist, Psychologen nennen das
intrinsische Motivation. Andere bleiben nur stehen, wenn ein Auto
kommt oder ein Polizist in der Nähe ist, das nennt man extrinsische
Motivation. Im zweiten Corona-Jahr befürchtet Wagner, dass die
intrinsische Motivation der Menschen stark nachlässt. «Viele Menschen
fangen an, sich nur noch an die Regeln zu halten, wenn sie überwacht
werden. Die Corona-Regeln können nur schlecht überwacht werden. Das
ist ein sehr ernstes Problem.»

Nach Monaten von Einschränkungen hätten die Menschen das Gefühl, dass

sich an der Lage ohnehin nichts ändert, egal wie sie sich verhalten.
«Man nennt das gelernte Hilflosigkeit», erklärt der Marburger
Psychologe. Darauf gebe es drei mögliche Reaktionen: «Ich werde
depressiv, ich werde aufsässig oder ich lasse es laufen.» Alle drei
Reaktionen seien bereits zu beobachten, sagt Wagner. Er glaubt, dass
sich alle drei noch verstärken werden.

Die komplizierten Regeln, die in der vergangenen Woche verabschiedet
wurden, bergen Wagner zufolge zusätzlich die Gefahr, «dass die
Menschen überfordert sind». Lockdown-Verlängerung bei gleichzeitigen

Lockerungen - das sende mehrdeutige Botschaften. Auch der
Epidemiologe Rafael Mikolajczyk hält die Bund-Länder-Beschlüsse für

ein falsches Signals an die Bevölkerung. «Lockerung in den
Einstellungen kann größere Folgen haben als die Regeln selbst»,
erklärte der Wissenschaftler der Universitätsklinik Halle vergangene
Woche. Das vereinbarte regionale Vorgehen sei zwar psychologisch und
politisch verständlich, «epidemiologisch ist es kurzsichtig».

Wagner erklärt das so: «Eine Gesellschaft funktioniert nur dann, wenn
die Menschen bereit sind, sich freiwillig an die Regeln zu halten.
Das setzt voraus, dass man von den Regeln überzeugt ist.» Der
Psychologe glaubt nicht, dass das beim Thema Corona noch bei allen
der Fall ist. «Die Menschen schaffen es, sich an die Corona-Regeln zu
halten, wenn sie schwere negative Folgen für sich selbst befürchten.
Dieses Motiv tritt gerade in den Hintergrund. Was die Menschen sehen,
ist, dass die Zahl der Todesfälle sinkt.»

Sich selbst einschränken, um andere zu schützen - dieses Narrativ sei
«aufgebraucht», sagt Wagner. Ethisch sei es sehr «honorig»,
psychologisch funktioniere es aber nicht auf Dauer. Heute sei das
«nur noch eine schöne Geschichte, die wir uns erzählen». Auch ein
weiteres Narrativ hält Wagner für problematisch: Seit einem Jahr
werde die Verantwortung allein auf das Individuum geschoben. «Der
Vorwurf lautet: Wenn es nicht besser wird, haben wir uns nicht genug
zusammengerissen.» Damit ziehe sich der Staat aus der Verantwortung.

Dass die Menschen abstumpfen, zeigen auch Zahlen des Statistischen
Bundesamtes. Die jüngste Sonderauswertung von Mobilfunkdaten beweist,
dass die Menschen rund ein Jahr nach Beginn der Corona-Pandemie ihre
Mobilität kaum noch einschränken. Schon seit Jahresanfang sei «eine
Angleichung der Mobilität an das Vorkrisenniveau zu beobachten»,
berichten die Statistiker. In der zweiten Februarhälfte habe sich die
Mobilität - bei frühlingshaften Temperaturen - «stark dem
Vorkrisenniveau angenähert».

Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt, dass es zwei Wege gibt, wie
eine Pandemie endet. Nach Ansicht von Historikern geht das entweder
medizinisch - oder sozial. Das medizinische Ende kommt, wenn ein
Großteil die Infektion überstanden hat oder durch Impfung immun ist.
Das soziale Ende findet eher in den Köpfen statt: Die Angst vor der
Krankheit nimmt ab, die Aufmerksamkeit lässt nach, andere Themen
treten in den Vordergrund, die Menschen nehmen die Einschränkungen
nicht mehr hin - man lernt, mit der Krankheit zu leben.

«Ich glaube, dass das tatsächlich so sein wird», sagt Psychologe
Wagner. Wenn wir durch Impfungen und Medikamente Todesfälle und
schwere Verläufe reduzieren und damit die Pandemie gefühlt in den
Griff bekommen, «dann definieren wir sie einfach für uns weg».

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