Hendrik Streeck: «Das Fell wird dabei auf jeden Fall dicker» Interview: Jonas-Erik Schmidt, dpa

Deutschland lebt seit rund einem Jahr mit der Corona-Pandemie. Es ist
auch das Jahr gewesen, das den Virologen Hendrik Streeck zum großen
Erklärer gemacht hat - und mitunter zum Hassobjekt. Wirklich
zufrieden wirkt er gerade nicht. Ein Gespräch.

Bonn (dpa) - Hendrik Streeck ist noch etwas müde, er hatte einen
Talkshow-Auftritt - mal wieder. Seit das Coronavirus Deutschland
erreicht hat, ist der Virologe des Uniklinikums Bonn gefragt. Früh
schon hat er sich auf die Fährte des Virus gemacht, als er begann, im
Kreis Heinsberg zu forschen, einem der ersten Corona-Hotspots der
Republik. Darüber hat er nun ein Buch geschrieben («Hotspot. Leben
mit dem neuen Coronavirus»). Es liegt während des Gesprächs mit der
Deutschen Presse-Agentur auf dem Schreibtisch seines Büros. Ein
Interview über das Leben im Lockdown, die Aussicht auf den Sommer und
Anfeindungen im Netz.

Frage: Herr Streeck, Corona begleitet uns in Deutschland ziemlich
genau ein Jahr. Haben Sie am Anfang gedacht, dass wir jetzt - also im
Frühjahr 2021 - deutlich weiter sein werden in der Bekämpfung der
Pandemie?

Antwort: In der ersten Pressekonferenz, auf der ich war, habe ich
gesagt: Das Virus ist da, wir müssen lernen, mit ihm zu leben. Das
Problem ist aber nach wie vor, dass wir es nicht schaffen, die
Bevölkerung kommunikativ über die nächsten drei Wochen hinaus
mitzunehmen. Momentan hangeln wir uns von Verordnung zu Verordnung.
Mir fehlt ein Langzeitplan. Schleswig-Holstein hat nun einen
Stufenplan vorgelegt, an dem man an Stellen noch drehen und andere
Parameter reinnehmen kann. Aber per se finde ich das ausgezeichnet.
Wenn man den Leuten sagt, was ab bestimmten Inzidenzen wieder möglich
ist, gibt es eine Perspektive. Es gibt Zuversicht.

Frage: Zugleich betonen Sie häufig, man dürfe die Inzidenz - also die
Zahl der Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb einer Woche -
nicht als alleinigen Maßstab nehmen.

Antwort: Und meine damit, dass man noch weitere Parameter reinnimmt.
Natürlich sollte man die Inzidenz nicht über Bord werfen. Aber als
Arzt interessiert mich vor allem, ob ein Patient krank wird. Deswegen
ist es so wichtig, die stationäre und intensivmedizinische Belegung
einzubeziehen. Die Zahl der Neuinfektionen wird nie zuverlässig
vergleichbar sein, weil sie von der absoluten Zahl an Tests abhängt -
und wir haben zwischendurch die Teststrategie geändert. Wir brauchen
also weitere, stabile Parameter.

Frage: Halten Sie denn die momentanen Maßnahmen, den Lockdown, für
richtig?

Antwort: Da wir nicht genug über das Infektionsgeschehen wissen,
bleibt uns gar keine andere Möglichkeit. Das ist allerdings der
Hammer, mit dem wir zuschlagen. Uns fehlen Daten, was man guten
Gewissens öffnen kann - ob nun den Einzelhandel oder Restaurants.
Dieses Wissen wird zur Zeit nicht generiert, es fehlt an Forschung.
Die Wissenschaft könnte das leisten - aber nicht ein einzelnes
Institut. Das müsste eine konzertante Aktion sein ohne
Partikularinteressen. Die gibt es aber leider noch nicht.

Frage: Eine Begründung für die weiterhin harten Maßnahmen ist die
Angst vor den Mutationen des Virus, die zum Beispiel in
Großbritannien aufgetreten sind und als ansteckender gelten. Ist das
für Sie auch ein Argument?

Antwort: In der momentanen Situation halte ich es für richtig, den
Lockdown zu halten. Die Mutationen muss man genau ansehen, da sie ein
Gefahrenpotenzial bedeuten können - aber heute sind sie dafür nur
bedingt ein Argument, weil auch hier noch ausreichend Studien fehlen.
Die Veränderungen ausschließlich im Labor zu untersuchen, genügt
nicht. Die Maßnahmen in England, Irland und Dänemark - die ähnlich
sind zu unseren - zeigen aber, dass das Virus mit unseren momentanen
Mitteln kontrollierbar ist. Die Zahlen gehen nach unten, auch wenn
die neue Variante dominant wird.

Frage: Stichwort Zahlen. Glauben Sie, dass wir wie im vergangenen
Jahr eine deutliche Entspannung bei den Neuinfektionen erleben
werden, wenn es wärmer wird?

Antwort: Diese Annahme ist realistisch, aber man kann das nicht
vorhersagen. Allerdings verhalten sich respiratorische Viren meistens
saisonal, sprich sie treten im Sommer weniger auf. Dass es davon eine
Ausnahme geben könnte, zum Beispiel aufgrund von Mutationen - das
wäre dann eine unerfreuliche Erkenntnis.

Frage: Ihr Kollege Christian Drosten hat vor einem verfrühten Ende
der Corona-Maßnahmen gewarnt. Er sprach im schlimmsten Fall von
100 000 Neuinfektionen pro Tag. Was halten Sie von dieser Zahl?

Antwort: Ich halte es für gar nicht so unwahrscheinlich, dass wir
schon Dunkelziffern hatten, die an solchen Werten kratzten. Wenn man
annimmt, dass rund zwei Prozent der Infizierten intensivmedizinisch
behandelt werden müssen, dann kommt man bei 5000 belegten
Intensivbetten auf entsprechend viele Neuinfektionen, die es vorher
gegeben haben muss.

Frage: Man erlebt gerade, dass all die schlechten Nachrichten zu
einer gewissen Müdigkeit bei den Menschen führen, zu einer Mattheit.
Viele dachten, dass man 2021 schon mehr Licht sieht.

Antwort: Es ist leider ein Marathon. Wir dürfen dabei nicht den Fokus
verlieren, um was es geht, und sollten unser Leben nicht von Viren
bestimmen lassen. Aber ich erlebe wie Sie, dass Angst und Spaltungen
entstanden sind, die gesellschaftlich schwierig geworden sind. Doch
wir müssen für uns beantworten, wie wir unser Leben mit dem Virus
gestalten wollen - denn es wird bleiben.

Frage: Sie meinen, dass sich unser Leben langfristig verändern wird,
auch wenn wir mit dem Impfen Erfolg gehabt haben sollten?

Antwort: Ich finde, es hat fast schon etwas Philosophisches. Manchmal
kommt es mir vor wie die vierte Kränkung der Menschheit. Freud hat
das formuliert: Die ersten Kränkungen waren, dass der Mensch doch
nicht im Mittelpunkt des Universums steht, dass wir irgendwie vom
Affen abstammen und dass wir triebgesteuert sind. Gerade kränkt uns,
dass wir als technologisierte Gesellschaft nicht Herr über dieses
kleine Virus werden. Die notwendige Souveränität, damit umzugehen,
haben wir noch nicht erlernt.

Frage: Sie haben ein Buch geschrieben, es handelt unter anderem von
ihrer Forschung im Kreis Heinsberg, einem der ersten Hotspots. Wie
haben Sie dafür Zeit gefunden?

Antwort: Ich habe von Anfang an ein Videotagebuch geführt, als wir
nach Heinsberg gefahren sind, und danach viel aufgeschrieben. Somit
hatte ich eine Basis. Aber ohne die Hilfe des Verlages hätte ich das
nicht machen können.

Frage: Sie forschen immer noch, unter anderem zu der mittlerweile
weltbekannten Karnevalssitzung in der Gemeinde Gangelt, bei der sich
viele Menschen infizierten. Gibt es da schon neue Erkenntnisse?

Antwort: Wir sind mittendrin. Die Kappensitzung ist schwierig zu
rekonstruieren. Was wir mittlerweile ziemlich klar sagen können: Es
war nicht so, dass nur ein Mensch das Virus an dem Abend hatte. Wir
nehmen an, dass es an dem Abend mehrere Infizierte gegeben hat. Das
macht die Analyse nicht einfacher.

Frage: Sie selbst wurden durch die Pandemie und durch ihre Auftritte
in Talkshows zu einer öffentlichen Figur. Auf Twitter werden Sie
mitunter hart angegangen für ihre Aussagen. Hat Sie das verändert?

Antwort: Es geht immer in beide Richtungen, es gibt sehr viele
positive, aber auch die negativen Rückmeldungen. Das Fell wird dabei
auf jeden Fall dicker. Manche Vorwürfe sind nur absurd, weil
absichtlich etwas falsch verstanden wird. Was mich teilweise wundert
ist, aus welcher Richtung die Anwürfe kommen, zum Beispiel von
einigen Mitgliedern der Grünen. Diese vertreten auf Twitter die
Auffassung, dass es nur eine wissenschaftliche Meinung geben kann.
Dass Politiker so einen wissenschaftlichen Diskurs unterbinden
wollen, kann ich nicht nachvollziehen. Auch keinen interdisziplinären
Diskurs. Stattdessen hat man Lagerdenken entwickelt.

ZUR PERSON: Hendrik Streeck ist Direktor des Instituts für Virologie
am Universitätsklinikum Bonn. Unter anderem hat er für eine Studie
die Ausbreitung des Coronavirus im Kreis Heinsberg untersucht, einem
der ersten deutschen Corona-Hotspots. In seiner Laufbahn war der
43-Jährige, der bei Göttingen aufwuchs, unter anderem an der Harvard
Medical School in Boston tätig.

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