Das Jahr der Virologen Von Christoph Driessen, dpa
Die Virologen sind die Aufsteiger des Jahres. Manches deutet
allerdings darauf hin, dass es sich um einen vorübergehenden Hype
handelt. TV-Moderator Ranga Yogeshwar hat Christian Drosten schon
vorgewarnt.
Berlin (dpa) - Wahrscheinlich gibt es demnächst irgendwann eine
Fernsehserie mit einem Virologen als Helden. Ein schlaksiger Doktor,
die Haare ein wenig struppig, das Gesicht übernächtigt, die Kleidung
zerknittert. Wenn er von Reportern interviewt wird, wirkt er einen
Tick ungeduldig, so als müsste er eigentlich schon wieder bei der
Arbeit sein. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen wäre rein
zufällig.
Virologe mit sieben Buchstaben - vor einem Jahr hätte man da passen
müssen, jetzt ist es eigentlich zu einfach. Drosten, Christian
Drosten, ist der Aufsteiger des Jahres, und in seinem Gefolge viele
andere Virologen. Hendrik Streeck, Jonas Schmidt-Chanasit, Melanie
Brinkmann zum Beispiel. Ihre Prominenz kommt so unvorhergesehen wie
die ganze Pandemie. In der Corona-Krise sind sie die Superhelden, die
das Monster niederringen müssen: In dem Video der Berliner Punkband
ZSK zu ihrem Song «Ich habe Besseres zu tun» tötet Christian Drosten
Corona-Erreger nur mit seinen Blicken.
Auch bei Twitter wurde Drosten im Corona-Jahr zum Star. Der Virologe
hat in dem sozialen Netzwerk 2020 deutschlandweit das größte Wachstum
an Followern verzeichnet, wie der Jahresrückblick des US-Unternehmens
für Deutschland gerade erst zeigte. Und der Hashtag #corona belegte
Platz eins der Liste am häufigsten verwendeter Schlagwörter bei
Twitter.
Zuweilen wird gar von einer Herrschaft der Virologen gesprochen -
schließlich behaupten Politiker mitunter, sie würden nur ausführen,
was die Experten ihnen vorgäben. Der Soziologe Armin Nassehi von der
Universität München - der selbst immer wieder von Bundespolitikern um
Rat gefragt wird - glaubt das allerdings nicht: «Es gibt keine
Herrschaft von Wissenschaftlern. Wissenschaftler stellen
Forschungsergebnisse zur Verfügung, aber die Politik muss das in
Entscheidungen umsetzen.»
Das geschehe nie eins zu eins, schon deshalb nicht, weil die
Erkenntnisse und Empfehlungen der Wissenschaftler selten eindeutig
seien. «Schon die einzelnen Virologen ziehen ja oft sehr
unterschiedliche Schlüsse», sagt Nassehi. «Und dann werden ja nicht
nur sie gefragt, sondern auch Psychologen, Pädagogen, Juristen,
Sozialwissenschaftler...»
Die Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Katja
Becker, würde sich wünschen, dass zumindest die Virologen öfter mit
einer Stimme sprächen. «Wenn Sie zehn Virologen eine Frage stellen,
erhalten Sie unter Umständen mehrere verschiedene Antworten.» Das sei
einerseits zwar verständlich, denn jeder habe seinen eigenen
Erfahrungshorizont. Zielführender wäre aber gerade in der aktuellen
Pandemiesituation, wenn die Wissenschaftler zunächst untereinander
diskutieren und sich dann möglichst auf eine gemeinsame Linie einigen
würden. «Das wird aktuell leider zu selten getan», bedauert Becker.
Christian Drosten hält schon seit Anfang des Jahres die Pole-Position
unter den Pandemie-Erklärern. Sein «Coronavirus-Update» hatte allein
bis zur Sommerpause mehr als 60 Millionen Abrufe und wurde mit dem
Grimme Online Award ausgezeichnet. Daraus dürfe man allerdings nicht
schlussfolgern, dass Millionen Drosten-Hörer den Ehrgeiz hätten, das
Corona-Thema wirklich zu durchdringen, schränkt der Medienpsychologe
Frank Schwab von der Universität Würzburg ein.
«Aus der Nachrichtenforschung wissen wir, dass die Leute die
Tagesschau nicht unbedingt einschalten, um sich zu informieren. Die
meisten können kurz nach dem Ende der Sendung weniger als 20 Prozent
der Meldungen wiedergeben.» Das Nachrichtenschauen habe eher die
Funktion eines Screenings: Ist noch alles in Ordnung? Viele Menschen
mögen es auch, den Abend mit Marietta Slomka oder Ingo Zamperoni
abzuschließen - sie sind für sie wie gute Nachbarn, die man zu kennen
glaubt. Die Medienforschung bezeichnet das als «parasoziale
Beziehung». «Und das ist bei Herrn Drosten vermutlich ähnlich», sag
t
Schwab.
Eine Kölner Medizinerin - die lieber nicht namentlich genannt werden
will - ist wochenlang mit dem Drosten-Podcast eingeschlafen, weil sie
seine Stimme so angenehm und beruhigend findet. Der
Wissenschaftsjournalist und Fernsehmoderator Ranga Yogeshwar ist
überzeugt: «Christian macht das super, aber er ist absolut nicht
verständlich. Ich glaube eher, dass er für die meisten Menschen die
Funktion eines Flugkapitäns hat: Der klingt auch bei Turbulenzen noch
so, als ob er alles im Griff hat.»
Kann man aber zumindest davon ausgehen, dass die Wissenschaft im
Corona-Jahr 2020 einen Ansehenszuwachs verbucht hat? «Auf der einen
Seite gibt es schon eine große Achtung vor der unfassbaren Leistung,
in so kurzer Zeit Impfstoffe zu entwickeln», bestätigt der Soziologe
Nassehi. «Auf der anderen Seite erleben wir aber auch Wut und
Unverständnis, etwa darüber, dass sich die Wissenschaft permanent
selbst korrigiert.»
Manche Virologen, die heute die Maskenpflicht verteidigen, äußerten
sich vor einem halben Jahr noch skeptisch dazu. «Was aber eben daran
liegt, dass sie heute mehr wissen als damals. Aber für die
Öffentlichkeit ist das unheimlich schwer. Das Publikum denkt: «Was
sollen wir damit anfangen? Einmal sagen sie dies, einmal jenes.»» So
kommen in diesem Jahr Hochachtung und Enttäuschung zusammen. Aber das
sei unvermeidbar, meint Nassehi, «denn das gehört zur Arbeitsweise
von Wissenschaft: permanente Selbstkorrektur und Weiterentwicklung.»
Wollen kleine Kinder jetzt Virologen werden? DFG-Präsidentin Becker
kann sich das durchaus vorstellen. «Das wäre ein schöner Effekt. Ic
h
glaube, dass gerade von der biomedizinischen Forschung eine enorme
Faszination ausgeht.»
Ranga Yogeshwar schränkt allerdings ein, dass es immer wieder Phasen
gegeben habe, in denen die Wissenschaft besonders gefragt gewesen sei
- ein Beispiel dafür sei die Atomkatastrophe von Fukushima vor fast
zehn Jahren. Damals wurde auch er als Experte durch die Talkshows
gereicht: «Heute erinnert sich niemand mehr daran.»
Yogeshwar rechnet damit, dass die Menschen die Pandemie möglichst
schnell verdrängen werden, wenn sie erst einmal überstanden ist.
«Dann wird man bestimmte Namen und Gesichter mit dieser schlimmen
Zeit assoziieren, und schlechte Zeiten will man vergessen.» Der
Medienprofi Yogeshwar hat Christian Drosten deshalb schon im Frühjahr
vorgewarnt. «Ich habe zu Christian gesagt: Jetzt wirst du gefeiert,
am Ende wirst du verbrannt.» Dieser habe ihn daraufhin ein bisschen
verdutzt angesehen. «Aber ich glaube, inzwischen weiß er genau, was
ich gemeint habe.»
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