Wo Medizin und Mafia in der Pandemie Hand in Hand gehen Von Petra Kaminsky, dpa

Mafia, Politik und Gesundheitswesen - die Nähe zwischen diesen drei
Bereichen kann schon in normalen Zeiten Alarm auslösen. In Süditalien
hat die Verquickung allerdings Tradition. Verschärft durch Corona
lässt sich das Krankenhaus-Desaster dort kaum mehr vertuschen.

Rom/Catanzaro (dpa) - An einem Donnerstag im November rückten
Polizisten an mehreren Orten Italiens zu einem besonderen
Anti-Mafia-Schlag aus. Sie gingen nicht gegen irgendeine kriminelle
Bande vor. Ziel war die 'Ndrangheta, das mächtigste und brutalste
Verbrechernetz des Mittelmeerlandes. Mafia-Jäger Nicola Gratteri und
andere Ermittler aus Kalabrien starteten mit der Aktion einen
Angriff, der gerade in der Corona-Pandemie als Signal gelten kann:
Sie lassen nicht locker im Kampf gegen die Verquickung von Mafia,
Politik und Gesundheitswesen.

In Süditalien gelten Teile des medizinischen Systems, darunter auch
Krankenhäuser und Apotheken, als mafiös unterwandert. Manche
Politiker lassen sich von der 'Ndrangheta einkaufen, um deren
Geschäfte in diesem Bereich zu decken.

«Es hat schon viele Fälle von Korruption im Gesundheitssektor
gegeben», sagt Staatsanwalt Gratteri, ohne seine aktuelle Ermittlung
bewerten zu wollen. Dort fließe eben viel Geld, staatliches Geld:
«Dieser Sektor macht um die 70 Prozent des regionalen Haushalts aus»,
beschreibt der 62-Jährige das, was die Mafia lockt. Gratteri ist seit
Jahrzehnten eine der zentralen Figuren im Kampf gegen das
organisierte Verbrechen. Er lebt unter Polizeischutz.

Im aktuellen Fall wurde ein führender Politiker aus der
Regionalhauptstadt Catanzaro unter Hausarrest gestellt. Er steht im
Verdacht, der 'Ndrangheta mit Genehmigungen für Medikamentenhandel
und den Aufbau eines Apothekennetzes vor allem in Kalabrien geholfen
zu haben. Auch Geldwäsche spielt eine Rolle. Im Gegenzug sollten die
Mafiosi ihm, so der Vorwurf, bei den Regionalwahlen 2014 Stimmen
beschaffen. Außer gegen den Parlamentarier ging die Justiz an der
Stiefelspitze gegen knapp 20 Mitglieder des Grande-Aracri-Clans vor.

Was aus deutscher Sicht ungewöhnlich klingt, hat in Italien durchaus
Tradition. Dass Politiker bei Familienclans Wählerstimmen kaufen, ist
nicht so selten. Die 'Ndrangheta besitzt ihre Basis im armen
Kalabrien. Dort leben rund zwei Millionen Menschen. Seit den 1990er
Jahren gilt sie als mächtigste Mafia-Organisation Europas. Die
Camorra in Kampanien und die sizilianische Cosa Nostra habe sie in
vieler Hinsicht überholt, heißt es. Zusätzlich zum Kokainhandel und
Müllgeschäften sind die Clans in andere Branchen eingestiegen, auch
in den Medizinsektor. «Dies ist ein Bereich, in dem sich in der
Vergangenheit überschneidende Interessen konzentriert haben»,
analysiert Mafia-Jäger Gratteri.

Andere Experten formulieren es so: Wo der Staat scheitert, suchen
sich die Bürger andere Sicherheiten. Die 'Ndrangheta-Clans seien
bestrebt, staatliches Versagen zu fördern. «Ein System, wo nichts
funktioniert, ist genau der Ort, an dem Mafia-Organisation alles
untergraben und damit einen Sieg davontragen, indem sie für
Liquidität, Kontrolle und Organisation sorgen», beschrieb der
Anti-Mafia-Autor Roberto Saviano («Gomorrha») dieser Tage, was in
Kalabrien politisch zu beobachten ist.

Das Medizin-System dort sei seit langem defizitär. Unter dem
Deckmantel von Reformen sei es weiter kaputt gespart worden, befand
er in der Zeitung «La Repubblica». In Kalabrien bestehe die Praxis
fort, Verträge mündlich zu schließen. Außerdem seien, wie in andere
n
Regionen Süditaliens, reihenweise mittlere und kleine Krankenhäuser
geschlossen worden. Das räche sich in der aktuellen Notlage.
«Pandemien schaffen keine Krisen, Pandemien radikalisieren bestehende
Krisen (...)», urteilte der Schriftsteller.

Und was tut die 'Ndrangheta? Fachleute berichten, dass Kinder aus
kriminellen Familien Medizin und Pharmazie studiert hätten, um in
Verwaltung und Hospitälern einflussreiche Positionen zu erklimmen.
Gratteri warnt jedoch vor Pauschalurteilen. Familienzugehörigkeit
alleine mache Menschen nicht zu Verbrechern.

Außerdem stoßen die Ermittler auf eine Vielzahl krimineller
Geschäftsmodelle. Medizinhandel, Krankentransporte,
Bestattungsdienste: exklusive Zugänge zu Aufträgen, überteuerte
Preise, Bestechung und Erpressung, die Liste ist lang.

Italiens Gesundheitswesen ist von der Basis her staatlich und
steuerfinanziert. Es bietet damit eine Grundversorgung der Bürger.
Daneben existiert eine oft schnellere, bessere und teure Behandlung
in privaten Kliniken und Arztpraxen. Das öffentliche Netz wird
großteils von den Regionen geplant, finanziert und überwacht.

Weil die Klagen über die schlechte Versorgung in Kalabrien alt sind,
hatte die Regierung in Rom schon vor Jahren einen staatlichen
Kommissar entsandt. Ohne viel Erfolg, wie es scheint. Nachdem die
erste Corona-Welle hauptsächlich den Norden traf, erreichte die
zweite Virus-Welle im Herbst auch den Süden. Das Desaster im
Gesundheitssektor Kalabriens sorgt seitdem für Schlagzeilen. Rom
feuerte den alten Kommissar wegen Unfähigkeit - und hatte dann
wochenlang Schwierigkeiten, einen neuen Aufpasser zu finden.

Um die engen Bindungen zwischen Politik, Mafia und Gesundheitswesen
zu kappen, braucht es mehr als die Großrazzien der Polizei. Davon ist
auch Gratteri überzeugt. Trotzdem tun sie ihren Teil: «Wir müssen
wachsam bleiben», sagt der Staatsanwalt. Aber auch die Kultur und das
Denken aller müssten sich ändern.