«Das ist hirnrissig»: Singender Protest im Corona-Hotspot Von Annett Gehler und Bodo Schackow, dpa

Im bundesweit schlimmsten Corona-Hotspot in Hildburghausen ziehen
einige hundert Menschen gegen den Lockdown auf die Straße. Sie singen
«Oh, wie ist das schön!» und sorgen damit vielfach für
Fassungslosigkeit.

Hildburghausen (dpa) - Am Tag nach dem bundesweit Aufsehen erregenden
Corona-Protest ist in der Südthüringer Kreisstadt Hildburghausen
wieder beschauliche Ruhe eingekehrt. Die kleine Fußgängerzone mit
ihren geöffneten Geschäften wirkt wie ausgestorben. Auf dem
Wochenmarkt finden sich am Donnerstagvormittag nur vereinzelt Käufer
mit Masken ein. Der zuvor abendliche «Spaziergang» mehrerer hundert
Menschen gegen den harten Lockdown im Kreisgebiet sorgt unter ihnen
für Kopfschütteln: «Das ist hirnrissig, was die da machen»,
kommentiert etwa ein jüngerer Passant, der seinen Namen nicht nennen
will.

«Die da» - das sind etwa 400 Menschen, die am Mittwochabend trotz
strenger Ausgangsbeschränkungen durch die Kleinstadt zogen. Während
in der Region die Infektionszahlen durch die Decke schießen,
marschieren Protestteilnehmer «Oh, wie ist das schön!» singend durch

die Straßen - laut Polizei teils ohne Maske und Mindestabstand. Zur
gleichen Zeit beraten die Länderchefs mit Bundeskanzlerin Angela
Merkel (CDU) in einer Video-Schalte über weitere Schritte zur
Eindämmung der Pandemie in Deutschland.

Landes- und Kommunalpolitiker sind ob der Bilder aus Hildburghausen
fassungslos. «Was muss denn noch passieren, bis manche den Ernst der
Lage begreifen?», fragt etwa Hildburghausens Bürgermeister Tilo
Kummer (Linke) auf Facebook. Ganze Kitas, Schulen, Rettungswachen,
Feuerwehren hätten in den vergangenen zwei Wochen in Quarantäne
gemusst.

Auch Thüringens Gesundheitsministerin Heike Werner (Linke) redet
Klartext: «Wie unsolidarisch kann man eigentlich sein? Auf den
Intensivstationen kämpfen Menschen um ihr Leben.» In einer solchen
Situation im deutschlandweit schlimmsten Hotspot jegliche
Schutzmaßnahmen zu ignorieren, grenze schon an ein verbrecherisches
Ausmaß von Egoismus.

Nirgendwo in Deutschland ist gemessen an der Einwohnerzahl der
Infektionswert höher als in der ländlichen Region an der bayerischen
Landesgrenze. Klare Infektionsherde sind hier schon lange nicht mehr
auszumachen. Am Donnerstag gab es laut dem Robert Koch-Institut mit
602,9 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner innerhalb einer Woche einen
neuen Höchststand im Kreis Hildburghausen.

Zum Vergleich: Die Regierungschefs von Bund- und Ländern sehen
bereits ab einer Schwelle von 200 Neuinfektionen pro 100 000
Einwohnern binnen sieben Tagen eine extreme Infektionslage, bei der
schärfere Regeln greifen sollen. Um die Infektionswelle zu brechen,
gelten seit Wochenmitte für die rund 63 000 Einwohner im Kreisgebiet
von Hildburghausen drastische Beschränkungen: Sie dürfen bis zum
13. Dezember ihre Wohnungen nicht mehr ohne triftigen Grund
verlassen, Schulen und Kindergärten wurden geschlossen.

Die harten Einschnitte stoßen nicht bei allen auf Verständnis. Laut
Rathauschef Kummer kursierten bereits seit Tagen Protest-Aufrufe im
Netz. «Die sind untereinander alle vernetzt, das ist dasselbe
Strickmuster wie in Leipzig und Berlin - nur kleiner», meint Landrat
Thomas Müller (CDU) zu dem Protest, der am Mittwochabend nach knapp
zwei Stunden auch mit Einsatz von Pfefferspray von der Polizei
aufgelöst wurde. Einen Initiator konnte die Polizei laut einer
Sprecherin aber noch nicht ermitteln.

Der Corona-Protest sorgte auch im Netz für lebhafte Diskussionen.
Viele kritisierten ihn als verantwortungslos und äußerten ihr
Unverständnis darüber, dass die Teilnehmer sich und andere in Gefahr
gebracht hätten. Die Satiresendung «Extra3» twitterte dazu: «Robert

Koch-Institut meldet neuen Tiefstwert: In #Hildburghausen wurde
gestern Abend der niedrigste Empathie-Wert in ganz Deutschland
gemessen.»