Schweiz nimmt dramatische Corona-Lage mit Gelassenheit statt Panik Von Christiane Oelrich, dpa

Man stelle sich vor, in Deutschland würden täglich doppelt so viele
Corona-Infektionen gezählt und es wären mehr als doppelt so viele
Menschen gestorben. Noch drastischere Maßnahmen wären wohl die Folge.
Nicht so in der Schweiz. Dort ist Gelassenheit angesagt.

Genf (dpa) - Die Corona-Lage in der Schweiz ist dramatisch. Pro
100 000 Einwohner gab es zuletzt innerhalb von sieben Tagen 351
Infektionen, in Deutschland unter 140. Seit Beginn der Pandemie sind
pro 100 000 Einwohner in der Schweiz 41 Menschen gestorben, in
Deutschland 16. Das sind Spitzenwerte im europäischen Vergleich - und
dennoch geben sich Politik, Behörden und die Gesellschaft entspannt.

Am Montag meldete das Bundesamt für Gesundheit 9751 neue Infektionen
innerhalb von drei Tagen. Vergleiche sind schwierig, zumal an
Wochenenden oft weniger getestet wird. Bei aller Vorsicht und unter
Berücksichtigung der Bevölkerungsgröße war das aber etwa doppelt so

viel wie in Deutschland. Ebenfalls gemessen an der Bevölkerungsgröße

starben in den drei Tagen in der Schweiz vier mal so viele Menschen
im Zusammenhang mit dem Virus wie in Deutschland.

Vielerorts sind Bars, Restaurants und Kinos geöffnet, auf Märkten
herrscht reges Treiben, in Kasinos wird gezockt, in Fitnesscentern
geschwitzt, und Bordelle sind auch geöffnet. Die Bundesregierung hob
die Höchstzahl von 1000 Zuschauern bei Großveranstaltungen am 1.
Oktober auf. Einkaufszentren landauf, landab haben mit dem
Weihnachtsgeschäft begonnen, in einem Fall mit einem Gewinnspiel, bei
dem sich Hunderte dicht gedrängt auf ein paar Lose stürzten.

«Die Schweiz stellt Sparsamkeit über das Leben», titelte die
US-Zeitschrift «Foreign Policy» gerade. Der Autor Joseph de Weck, ein
Schweizer Historiker, ist empört über einen Satz von Finanzminister
Ueli Maurer, der meinte, die Schweiz könne sich keinen zweiten
Lockdown leisten. «Er zeigt, dass es für die Schweiz vollkommen in
Ordnung ist, eine Debatte über eine vermeintliche Güterabwägung
zwischen Gesundheit und Geld zu führen», sagte er dem Sender SRF.
Maurer steht dazu. Im Videointerview auf der Webseite seiner Partei,
der rechten SVP, sagte er am 10. November, Wissenschaftler sähen nur
die Gesundheit, aber man müsse schließlich auch Geld verdienen.

Eigentlich müssten die Kantone handeln. Föderalismus ist eine heilige
Kuh in der Schweiz. Die Kantone verteidigen ihre Hoheiten mit Zähnen
und Klauen. Nur zu Beginn der Corona-Pandemie hielten sie sich
zurück. Im Frühjahr übernahm kurz die Bundesregierung das Zepter und

schloss für vier Wochen alle Geschäfte, Clubs und Restaurants. Doch
nach der ersten Entspannung löste der Krisenstab sich im Juni auf und
überließ die Verantwortung wieder den Kantonen. Mit fatalen Folgen.

Im Oktober sind die Infektionszahlen explodiert, trotz wochenlanger
Mahnungen der Wissenschaftler. Dutzende Ökonomen schrieben Anfang
November einen offenen Brief: «So schwer es fällt und so schmerzhaft
es sein wird, die Schweiz braucht einen zweiten Lockdown, gekoppelt
mit umfassenden fiskalischen Unterstützungsmaßnahmen, um weiteren
Schaden durch die Corona-Pandemie abzuwenden.»

Im Kanton Genf geriet die Lage fast außer Kontrolle, mit deutlich
über 1000 Fällen pro 100 000 Einwohner. So schlimm war es in keiner
anderen Region Europas. Anfang November reagierte die
Kantonsregierung mit einem Lockdown: Sämtliche Geschäfte,
Dienstleister und Restaurants wurden geschlossen. Mit dem Ergebnis,
dass die Genfer sich teils noch mehr bewegen, etwa, um im
Nachbarkanton Waadt zum Friseur zu gehen. Viel zu spät zogen auch
andere Kantone die Zügel an. Erst diese Woche schließen auch in der
Stadt Basel Restaurants, Bars, Cafés, Fitnesscenter, Kunsteisbahnen,
Hallenbäder und Kasinos.

Das Bundesamt für Gesundheit bleibt entspannt: «Die Entwicklung
stimmt mich tatsächlich vorsichtig optimistisch, es sieht nach einer
Trendwende aus», sagte die Chefin Anne Lévy dem «Sonntagsblick». Di
e
Sieben-Tage-Inzidenz ist von mehr als 450 pro 100 000 (vom 9. bis 15
November) auf zuletzt rund 350 Neuinfektionen binnen einer Woche
gefallen. Auf 14 Tage berechnet liegt die Schweiz in Westeuropa damit
aber mit an der Spitze, vor Italien, Großbritannien und Frankreich.
Lévy macht daraus: «Wir stehen nicht wesentlich schlechter da als das
europäische Ausland.»

David Nabarro, der Covid-Beauftragte der Weltgesundheitsorganisation
(WHO), die ihren Sitz in Genf hat, kann es nicht glauben. «Es
überrascht mich, dass es nicht als nationaler Notstand behandelt
wird», sagt er den Zeitungen des Medienunternehmens CH-Media.

Doch die «Neue Zürcher Zeitung» zollt der Schweizer Strategie
Respekt: «Kein Lockdown, keine Panik - der Bundesrat behält im
Corona-Stress die Nerven. Das verdient Respekt», schreibt sie in
einem Kommentar. «Wenn der Großteil der Bevölkerung dieselbe
Gelassenheit aufbringt wie der Bundesrat, dann kommt es gut.»