Das Corona-Wunder von Madrid: Zahlen gehen trotz «Highlife» runter Von Emilio Rappold, dpa

Medien sprechen von einem Wunder, Forscher staunen und finden keine
richtige Erklärung für das Phänomen: Im einstigen Corona-Epizentrum
Madrid gehen die Zahlen rapide runter, obwohl Bars und Restaurants
voll sind. Eine bereits totgesagte Politikerin wird dadurch zum Star.

Madrid (dpa) - Der Retiro und andere Parks sind dieser Tage in Madrid
voller Freizeitsportler und Spaziergänger. Will man die milde
Herbstsonne lieber sitzend bei einem Bierchen oder dem beliebten
Erdmandelmilch-Getränk Horchata genießen, muss man oft länger nach
einem freien Terrassen-Tisch suchen. Während in vielen anderen
Städten Spaniens und Europas neben Gastronomiebetrieben auch Kultur-
und Freizeiteinrichtungen teils völlig dicht sind, darf man in der
spanischen Hauptstadt bis Mitternacht in Bars und Restaurants sitzen.
Das Überraschende dabei: Trotz des relativ ausgelassenen Treibens
gehen im einstigen Corona-Epizentrum die Infektionszahlen und andere
wichtige Indikatoren seit Wochen zum Teil rapide nach unten.

Ende September, als die Corona-Lage anderswo noch relativ entspannt
war, hatte die Region Madrid mit 813 Infektionen pro 100 000
Einwohnern binnen 14 Tagen noch die bei weitem schlechtesten Werte
Westeuropas. Diese sogenannte 14-Tage-Inzidenz betrug zuletzt nur
noch 328. Die Zahl der Fälle je 100 000 Einwohner binnen sieben Tagen
fiel allein von Mittwoch auf Donnerstag von 161 auf 152.

In Spanien haben von den insgesamt 17 sogenannten Autonomen
Gemeinschaften nur die Insel-Regionen (die Kanaren und die Balearen),
sowie Galicien und Valencia bessere Werte. Eine derart schnelle
Verbesserung der Lage wie in Madrid wird aber nirgendwo registriert.
Und selbst mehrere deutsche Bundesländer hatten nach Angaben des
Robert Koch-Instituts zuletzt deutlich schlechtere 7-Tage-Werte,
darunter Berlin (190,8), Bayern (180,7) und Bremen (173,8). Für ganz
Deutschland betrug diese Inzidenz 140,4.

Die Zeitung «El Mundo» und andere spanische Medien sprechen
inzwischen wegen der lang anhaltenden Tendenz vom Madrider «Milagro»,
vom «Wunder von Madrid». Experten rätseln und wagen es nicht,
konkrete Erklärungen zu liefern. Was macht Madrid richtig? «Das ist
die Millionenfrage», sagt der Epidemiologe José Jonay Ojeda gegenüber

«El Mundo». Es sei noch zu früh, um Schlüsse zu ziehen. Ojeda stimm
t
mit vielen Kollegen aber darin überein, dass es einen Hauptgrund für
den Erfolg geben könnte: Antigentests.

Madrid kaufte Ende September fünf Millionen dieser Tests. In
Problemvierteln wurden Test-Offensiven gestartet. «Das war eine
richtige Entscheidung. Damit kann man ansteckende Fälle einfacher,
billiger und schneller diagnostizieren. Man kann Infizierte also auch
früher isolieren», erklärt Miguel Ángel Royo, Sprecher des spanisch
en
Epidemiologenverbandes. Die Antigen- sind zwar weniger sensitiv als
die PCR-Tests. «Aber nur sehr wenige positive Fälle werden nicht
entdeckt», sagt Ojeda.

Andere spanische Regionen, die trotz strengerer Einschränkungen des
Virus einfach nicht Herr werden, schauen nach Madrid mit einer
Mischung aus Neid und Skepsis. Zweifel gibt es vor allem in
Katalonien mit der Touristenmetropole Barcelona, die seit jeher in
allen Bereichen (vom Fußball bis zur Wirtschaft) eine große Rivalität

mit Madrid pflegt. «Wir stellen den Optimismus in Madrid in Frage. Es
ist klar, dass es dort einen Informations-Blackout gibt», sagte etwa
der regionale Gesundheitsminister Marc Ramentol.

Wegen der anhaltend schlechten Zahlen bleiben derweil in Katalonien
alle Restaurants, Bars, Kinos und Theater bis zum 23. November
geschlossen. Die seit dem 16. Oktober geltende Anweisung wurde am
Freitag um zehn Tage verlängert. Aufrechterhalten werden zudem auch
die Abriegelung der Region, die Absperrungen aller Gemeinden an den
Wochenenden sowie die nächtliche Ausgangssperre. Auch in anderen
Regionen Spaniens gelten ähnlich strenge Einschränkungen.

Aber stimmt der Vorwurf von Ramentol? Werden die Zahlen von der
konservativen Regionalregierung Madrids etwa geschönt? Einige
Experten schließen zwar nicht aus, dass es hier und da Probleme und
Verzögerungen bei der Erfassung der Fälle geben kann - nicht nur in
Madrid. Aber sie betonen, die Lage in den Krankenhäusern etwa könne
man nicht schönreden. Und auch da sieht es immer besser aus. «Die
niedrigeren Zahlen bei den Aufnahmen von Covid-19-Kranken sind eine
Realität», sagt Saúl Ares, Biotechnologie-Chef im Obersten Rat für

Wissenschaftliche Forschung (CSIC). In der Tat: Anfang Oktober lag
die Zahl der Aufnahmen in Madrid bei deutlich über 2500 pro Tag, am
Donnerstag wurden nur noch 238 (bei 316 Entlassungen) gemeldet.

Was macht Madrid anders als andere Regionen? Der Hauptunterschied:
Man verzichtet auf die Absperrung der gesamten Region oder ganzer
Städte und Gemeinden und riegelt nur kleinere Bezirke ab, die hohe
Zahlen haben. Diese Gebiete darf man nur mit triftigem Grund
verlassen oder betreten. Die Sperrstunde wird dort auf 22 Uhr
vorverlegt, Parks und Spielplätze werden geschlossen. Das reicht
offenbar: Am Freitag wurden 10 der insgesamt 32 betroffenen Gebiete
wieder «entriegelt», weil die Infektionszahlen dort in 14 Tagen
halbiert wurden.

Medien und Experten sind zudem davon überzeugt, dass die Madrilenen
aufgrund des großen Schrecks vorsichtiger geworden sind. «Ja, das
stimmt. Auch in unserer Familie wird noch mehr versucht, fast immer
Maske zu tragen und Abstand zu wahren. Aber Freude muss auch sein»,
sagen Rentner Carlos (75) und Gattin Lurdes (77) bei einem Gläschen
Rotwein auf der Terrasse des Traditionscafés «Gijón» unisono.

Das «Wunder» freut alle Madrileños, ganz besonders aber eine Frau:
Isabel Díaz Ayuso. Die Regionalpräsidentin war monatelang von der
Zentralregierung, von Medien und Kollegen anderer Regionen wegen
ihrer Corona-Politik scharf kritisiert worden. Ihr wurde Hilf- und
Tatenlosigkeit vorgeworfen. Für viele Medien war sie bereits
«politisch tot». Nun gilt die Journalistin plötzlich als neuer Star
und als Hoffnungsträgerin der konservativen Volkspartei (PP).

Sie habe «Eier, besser Eierstöcke», schrieb Kolumnistin Emilia
Landeluca in «El Mundo». Und TV-Starmoderator Pablo Motos rief
Donnerstagabend vor einem Millionenpublikum: «Gut, dass wir sie haben
in Madrid!»