Alkoholkrank in der Pandemie: Mehr Elend, schlimme Fälle Von Yuriko Wahl-Immel, dpa

In der Pandemie suchen viele Alkoholkranke Hilfe bei den
Suchtberatungsstellen. Der Bedarf wächst mit zunehmender
Kontaktarmut, Sorge um den Job, Zukunftsangst. Eine Alkoholkranke und
eine Sozialtherapeutin berichten.

Wuppertal (dpa) - Christiane Ludwig wirkt fröhlich, energiegeladen,
positiv. Sie ist alkoholkrank. Seit vielen Jahren. Die 55-Jährige hat
Entgiftungen, stationäre Therapien, Rückfälle, Gruppen- und
Einzelgespräche hinter sich. Sie arbeitet noch immer an sich. «Ich
bin seit einem Jahr trocken, stabil. Aber es begleitet einen immer.
Man muss dranbleiben», schildert die Mutter dreier erwachsener
Kinder. «Als ich Ende März aus der Klinik kam, war der Lockdown,
grausam.»

Die Familie stand immer hinter ihr. Ganz zentral sei für sie auch die
Betreuung in der Suchtberatung des Blauen Kreuzes gewesen - eine
wichtige Anlaufstelle für sie seit vier Jahren. «Ich hätte es sonst
nicht geschafft.» Während des Lockdowns habe sie in Videochats mit
ihrer Suchtberaterin in Wuppertal gesprochen. Die Bedeutung der
Unterstützungsangebote in der Corona-Krise betont auch die
Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Daniela Ludwig (CSU). Die
Dienste der Suchthilfe sollten trotz der nun erneut verschärften
Beschränkungen zunächst für November unbedingt aufrechterhalten
werden.

Tatsächlich steigen die Anfragen in der Pandemie Monat für Monat,
berichtet Sozialtherapeutin Fabienne Kroening. «Wir haben viele
Neuaufnahmen. Eine ganze Reihe Menschen hat sich erstmals bei uns
gemeldet. Und manche Klienten, die wir sonst alle zwei Wochen sehen,
wollen uns jetzt in jeder Woche zwei-, dreimal sprechen.» Unzählige
seien in der Corona-Krise aus dem Gleichgewicht geraten. Die Probleme
der Hilfesuchenden wachsen. Unter den Klienten seien alle Gruppen und
Berufe vertreten. Auffallend unter den Frauen: Viele üben helfende
Tätigkeiten aus, etwa als Krankenschwestern, wie Kroening beobachtet.
Sie stellten eigene Bedürfnisse lange hinten an und betäubten ihre
Überforderung dann mit Alkohol.

«Viele haben sich zurückgezogen, sind einsam, haben nicht das Glück,

eine Familie oder eine Arbeit zu haben.» Kultureinrichtungen,
Büchereien, manche Tafeln, Sportvereine waren oder sind nun erneut
geschlossen. «Soziale Kontakte fallen weg», erzählt Kroening. «Viel
e
alkoholkranke Menschen stecken in den eigenen vier Wänden fest.» Für

manche ein rotes Tuch. «Eigentlich sind sie am liebsten draußen
unterwegs, suchen Ablenkung, brauchen einen strukturierten
Tagesablauf.» Das wackele seit Monaten. Existenzängste und
Perspektivlosigkeit wachsen.

Kroening sagt: «Wir haben zunehmend mehr Elend und schlimme Fälle in
der Pandemie. Menschen kündigen uns ihren Suizid an, dass sie trinken
wollen, bis es vorbei ist. Wir leisten Krisenintervention.» Für ihre
oft verzweifelte Klientel sei die nahende dunkle Jahreszeit
zusätzlich kritisch. Der Arbeitsaufwand der Suchtberatung wachse
stark, es fehle Personal. Beratungsstellen befürchteten
Mittelkürzungen.

Das wäre fatal, meint auch Ludwig. Ein alkoholkranker Mensch brauche
verlässliche professionelle Unterstützung. Sie weiß, wovon sie
spricht. 2013 und 2016 hatte sie sich Entgiftungen unterzogen. Danach
war sie in einer stationären Motivierungstherapie in einer Klinik.
«Ich war zwischendurch zwei Jahre trocken und dachte, jetzt kann ich
mir ein kontrolliertes Trinken erlauben. Aber das ging total in die
Hose.» Ein weiterer Klinikaufenthalt folgte. 2019 kämpfte sie gegen
Entzugserscheinungen, zitterte, konnte kaum laufen. «Ich dachte, ich
sterbe.» Die Suchthilfe sei eine Konstante, sie sei dort gut
aufgehoben.

Angefangen hatte ihr Alkoholproblem 2002. Damals fand sie einen engen
Freund tot in seiner Wohnung. Ständige Panikattacken verfolgten sie,
erzählt die Erzieherin. «Ich dachte, Alkohol wäre die beste Medizin,

weil mich das ruhiger gemacht hat.» Aber der Drang, zur Flasche zu
greifen, wurde übermächtig. Sie appelliert an andere Alkoholkranke,
sich nicht aus Scham einzuigeln, offen zu den eigenen Problemen zu
stehen, rauszugehen. «Wir sind alkoholkrank, aber unser Leben ist
nicht zu Ende.» Sie selbst will bald wieder im sozialen Bereich
arbeiten.

Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) hat in der Pandemie
als Gründe für wachsende Alkoholprobleme Sorgen um Beruf und Zukunft,
psychische Belastungen, Isolation und häusliche Konflikte ausgemacht,
wie Expertin Christina Rummel sagt. Viele der laut DHS 1300
Suchtberatungsstellen bundesweit - etwa 400 in NRW - seien
unterfinanziert. Die Pandemie verschärfe das. Am 4. November soll ein
«Aktionstag Suchtberatung» unter Schirmherrschaft der Beauftragten
Ludwig auf die Bedeutung der Angebote aufmerksam machen.

Eine Erhebung von Forsa vom Oktober hat ergeben: Etwa ein Viertel der
Menschen mit ohnehin problematischem Alkoholkonsum trinkt seit Corona
noch mehr. Eine weitere Studie förderte steigenden Alkoholkonsum bei
einem Drittel von rund 3000 befragten Erwachsenen seit der Krise
zutage.

Kroening weiß: «Alkoholabhängigkeit ist eine chronische Erkrankung.
»
Sie gehe nicht weg, aber man könne sie in den Griff bekommen. Die
Beratungsstellen wollten Halt geben. «Unsere größte Sorge wäre, wen
n
wir diese Hilfe aus finanziellen Gründen nicht mehr anbieten
könnten.»

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