«Wir gehen nicht zur Arbeit» - Polen streiken gegen Abtreibungsverbot Von Doris Heimann, dpa

Seit sieben Tagen protestieren Menschen in Polen gegen eine
Verschärfung des Abtreibungsrechts. Am Mittwoch blieben viele ihrer
Arbeit fern. Die nationalkonservative PiS-Regierung hat die Stimmung
im Land falsch eingeschätzt - und bemüht nun Verschwörungstheorien.

Warschau (dpa ) - Die Oberbürgermeisterin von Polens drittgrößter
Stadt Lodz ging mit eigenem Beispiel voran. «Bin außerhalb des Büros
»
schrieb Hanna Zdanowska auf Twitter und postete dazu ein Foto ihres
leeren Schreibtischsessels. Viele Frauen, aber auch Männer in ganz
Polen taten es ihr am Mittwoch gleich. Aus Protest gegen eine
Verschärfung des Abtreibungsrechts blieben sie der Arbeit fern -
häufig mit Billigung ihrer Vorgesetzten in Behörden, Universitäten
und privaten Unternehmen.

Zu der Aktion mit dem Motto «Wir gehen nicht zur Arbeit» hatte die
Organisation Allpolnischer Frauenstreik aufgerufen. Sie spricht
vollmundig von einem «Generalstreik». Wie viele Arbeitnehmer genau
mitmachten, lässt sich zwar nicht überprüfen. Nur soviel steht fest:

Viele Polen sind wütend. Seit Tagen gehen sie auf die Straße. Auch am
Mittwochabend versammelten sich in Warschau, Lodz, Krakau und vielen
anderen Städten wieder Tausende Demonstranten. In Warschau trugen sie
Plakate mit den Aufschriften «Kämpft mit dem Virus, nicht mit den
Frauen» und «Kümmert euch um den Leib Christi».

Auslöser für die Proteste ist eine umstrittene Entscheidung des
Verfassungsgerichts. In der vergangenen Woche entschieden die
Richter, dass Frauen auch dann nicht abtreiben dürfen, wenn ihr Kind
schwere Fehlbildungen. Dies kommt de facto einem Abtreibungsverbot
gleich. Denn ohnehin gehört das polnische Abtreibungsrecht schon zu
den strengsten in Europa.

Derzeit ist ein Abbruch in Polen legal, wenn die Schwangerschaft das
Leben oder die Gesundheit der Mutter gefährdet, Ergebnis einer
Vergewaltigung ist oder wenn das Ungeborene schwere Fehlbildungen
aufweist. Letzteres ist bislang der häufigste Grund für eine
Abtreibung, wie die Statistik des Gesundheitsministeriums zeigt. So
wurden von den 1110 Abtreibungen, die 2019 in polnischen Kliniken
vorgenommen wurden, 1074 mit Fehlbildungen des ungeborenen Kindes
begründet. Künftig soll dies nicht mehr möglich sein.

Zum Vergleich: In Deutschland ist eine Abtreibung in der Regel bis
zur 12. Schwangerschaftswoche rechtlich zulässig, sofern sich die
Frau an einer staatlich anerkannten Stelle beraten lassen hat. Bei
einer medizinischen Indikation wie einer schweren Behinderung kann
die Frist verlängert werden.

Die Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts ist nicht so sehr
eine verfassungsrechtliche wie eine politische. Polens
nationalkonservative Regierungspartei PiS hat den Gerichtshof längst
mit den eigenen Leuten besetzt. PiS-Politiker dringen seit Jahren
darauf, Abtreibungen zu verbieten.

Umso mehr trifft die Wut der Demonstranten die PiS - und die
katholische Kirche, die auch in Polen durch Missbrauchsskandale an
Autorität eingebüßt hat. Landesweit werden Kirchen beschmiert,
Gottesdienste gestört und Geistliche beschimpft. Die PiS ist zum Ziel
vulgärer Verbalattacken geworden. Auf den Plakaten der Demonstranten
zählt das international verständliche «PiS off!» noch zu den milden

Varianten. Andere Losungen bieten Gelegenheit, sich mit den derbsten
polnischen Schimpfwörtern bekannt zu machen.

Offenbar hatten die PiS und ihr mächtiger Vorsitzender Jaroslaw
Kaczynski die Stimmung im Land völlig falsch eingeschätzt. Eine
aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Kantar zeigt: 62
Prozent der Polen finden, dass eine Abtreibung unter bestimmten
Bedingungen legal sein sollte; 22 Prozent sind dafür, einen
Schwangerschaftsabbruch auf Wunsch bis zur 12. Woche zu ermöglichen.
Nur 11 Prozent der Befragten befürworten ein Abtreibungsverbot.

Von den Protesten in die Ecke getrieben, bemüht Kaczynski alte
Feindbilder und Verschwörungstheorien. Der 71-jährige
Vize-Regierungschef rief die PiS-Anhänger auf, «um jeden Preis» die
Kirchen zu schützen. Diese würden nicht zufällig angegriffen.
Vielmehr könne man bei den Attacken eine Vorbereitung und sogar
Schulung erkennen. «Diese Attacke soll Polen vernichten. Sie soll zum
Triumph von Kräften führen, deren Herrschaft die Geschichte des
polnischen Volkes, so wie wir es kennen, beenden soll.»

Während sich die politische Stimmung aufheizt, hat die
Corona-Pandemie Polen weiter fest im Griff. Die Anzahl der gemeldeten
Neuinfektionen eines Tages erreichte am Mittwoch den Rekordwert von
mehr als 18 000 Fällen. Die PiS-Regierung könnte bald den
Ausnahmezustand verhängen, warnt Polens Menschenrechtsbeauftragter
Adam Bodnar. «Ich befürchte, dass die Situation ausgenutzt wird, um
unsere Bürgerrechte und -freiheiten ernsthaft einzuschränken», sagte

Bodnar dem Portal «Bezprawnik». Unter anderem könnte dann auch die
Versammlungsfreiheit ausgesetzt werden. Für die Straßenproteste wäre

das das Ende.

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