Merkel schwört Bürger auf Kampf gegen Corona ein: Jeder Tag zählt

Die Zahl der Corona-Neuinfektionen schnellt weiter in die Höhe. Die
Kanzlerin versucht, den Bürgern die Dramatik der Lage deutlich zu
machen. In der Politik wächst die Befürchtung, dass Infektionsketten
nicht mehr genügend nachverfolgt werden können.

Berlin (dpa) - In einem dramatischen Appell hat Kanzlerin Angela
Merkel die Bürger aufgefordert, angesichts sprunghaft steigender
Infektionszahlen zur Eindämmung der Corona-Pandemie beizutragen. «Wir
müssen jetzt alles tun, damit das Virus sich nicht unkontrolliert
ausbreitet. Dabei zählt jetzt jeder Tag», sagte die CDU-Politikerin
in ihrer am Samstag veröffentlichten wöchentlichen Videobotschaft.
«Ich bitte Sie: Verzichten Sie auf jede Reise, die nicht wirklich
zwingend notwendig ist, auf jede Feier, die nicht wirklich zwingend
notwendig ist. Bitte bleiben Sie, wenn immer möglich, zu Hause, an
Ihrem Wohnort.»

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) warnte mit Blick auf die

Nachverfolgung von Infektionsketten vor einem «Kontrollverlust» in
einigen Regionen in Deutschland. «Das ist hochgefährlich», sagte der

CSU-Politiker der «Passauer Neuen Presse».

Merkel sagte in ihrem Podcast, Deutschland befinde sich in einer
«sehr ernsten Phase» der Pandemie. Diese breite sich wieder rapide
aus, schneller noch als zu Beginn vor mehr als einem halben Jahr.
«Der vergleichsweise entspannte Sommer ist vorbei, jetzt stehen uns
schwierige Monate bevor. Wie der Winter wird, wie unser Weihnachten
wird, das entscheidet sich in diesen kommenden Tagen und Wochen. Das
entscheiden wir alle durch unser Handeln.» Den Podcast gab es auch in
türkischer und arabischer Fassung.

Die Gesundheitsämter in Deutschland haben zuletzt 7830 neue
Corona-Infektionen innerhalb eines Tages gemeldet, mehr als je zuvor
seit Beginn der Pandemie. Das geht aus Daten des Robert
Koch-Instituts (RKI) vom Samstagmorgen hervor. Am Vortag war mit 7334
neuen Fällen der bis dato höchste Wert registriert worden.

Damit sich das Virus nicht unkontrolliert ausbreite, müssten die
Kontaktpersonen jedes infizierten Menschen benachrichtigt werden, um
die Ansteckungsketten zu unterbrechen, so Merkel. «Die
Gesundheitsämter leisten dabei Großartiges, aber wo die Zahl der
Infizierten zu hoch wird, da kommen sie nicht mehr hinterher.»

Merkel forderte die Bürger auf, konsequent den Mindestabstand zu
wahren, den Mund-Nasen-Schutz zu tragen und Hygieneregeln
einzuhalten. Außerdem sage die Wissenschaft klar, die Ausbreitung des
Virus hänge direkt an der Zahl der Kontakte und der Begegnungen, die
jeder habe. «Wenn jeder von uns seine Begegnungen außerhalb der
eigenen Familie jetzt eine zeitlang deutlich verringert, dann kann es
gelingen, den Trend zu immer mehr Infektionen zu stoppen und
umzukehren. Genau das ist heute mein Appell an Sie: Treffen Sie sich
mit deutlich weniger Menschen, ob außerhalb oder zu Hause.»

Sie wisse, dass klinge nicht nur hart, das sei im Einzelfall auch ein
schwerer Verzicht, so Merkel. «Aber wir müssen ihn nur zeitweilig
leisten und wir leisten ihn letztlich für uns selbst: Für die eigene
Gesundheit und die all derer, denen wir eine Erkrankung ersparen
können. Dafür, dass unser Gesundheitswesen nicht überfordert wird,
dass die Schulen und Kitas unserer Kinder geöffnet bleiben. Für
unsere Wirtschaft und unsere Arbeitsplätze.»

Deutschland sei deswegen so vergleichsweise gut durch das erste halbe
Jahr der Pandemie gekommen, weil «wir zusammengestanden» und die
Regeln eingehalten hätten. «Das ist das wirksamste Mittel, das wir
zurzeit gegen die Pandemie haben. Jetzt ist es nötiger denn je.»

Bund und Länder hatten am vergangenen Mittwoch zwar Gegenmaßnahmen in
Corona-Hotspots verschärft. Beim umstrittenen Beherbergungsverbot für
Urlauber aus Risikogebieten aber gab es keine einheitliche Linie. In
mehreren Ländern haben Gerichte das Beherbergungsverbot inzwischen
gestoppt.

Merkel hatte sich in den Beratungen nach Informationen der Deutschen
Presse-Agentur unzufrieden mit den Beschlüssen gezeigt. «Die Ansagen
von uns sind nicht hart genug, um das Unheil von uns abzuwenden»,
sagte sie nach übereinstimmenden Angaben von Teilnehmern. «Es reicht
einfach nicht, was wir hier machen.»

Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus forderte eine bundeseinheitliche
Linie. «Alles andere ruft momentan nicht nur große Irritation in der
Bevölkerung hervor - es behindert ein konsequentes, gebündeltes
Vorgehen gegen Corona», schrieb der CDU-Politiker in einem der
Deutschen Presse-Agentur vorliegenden Brief an die Abgeordneten von
CDU und CSU.

Söder sagte: «Wenn keine Nachverfolgung der Infektionen mehr möglich

ist, so wie in den Niederlanden, Frankreich, Spanien und Tschechien,
muss man die Kontakte generell begrenzen..» Es müssten grundlegende
Entscheidungen getroffen werden. «Wenn wir das nicht tun und nur
halbherzig vorgehen, steuern wir unwillkürlich auf einen zweiten
Lockdown zu. Wer keinen Lockdown will, der muss jetzt entschlossen
handeln», sagte der CSU-Chef.

Die Politik will einen erneuten Lockdown wie im Frühjahr eigentlich
unbedingt verhindern - also ein Herunterfahren des gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Lebens wie im Frühjahr. Die Wirtschaftsleistung
war deswegen im zweiten Quartal eingebrochen.

Neben dem Beherbergungsverbot stoßen auch andere Maßnahmen der
Politik derzeit vor Gericht auf Widerstand. Eine Woche nach ihrer
Einführung steht die Sperrstunde für Berliner Bars und Kneipen auf
wackligen Füßen. Sie halte einer rechtlichen Überprüfung nicht stan
d,
erklärte das zuständige Verwaltungsgericht am Freitag.

Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) kündigte an, noch mehr Helfer zur
Unterstützung der Kommunen bei der Kontaktnachverfolgung mobilisieren
zu wollen. Neben dem Bundeswehrkontingent von bis zu
15 000 Soldaten schaue man auch, «ob wir weitere Personalreserven in
der Bundesregierung und nachgeordneten Behörden mobilisieren können»,

sagte der CDU-Politiker der «Rheinischen Post» (Samstag). Er habe
zudem die Hoffnung, zur Kontaktnachverfolgung auch eine größere Zahl
von Studierenden zu gewinnen.