Sensor für das ganze Land? Der Corona-Hotspot Neukölln Von Gisela Gross und Julia Kilian, dpa

Nirgendwo in Deutschland war die Zahl der Neuinfektionen zuletzt so
hoch wie im berüchtigten Berliner Stadtteil Neukölln. Jetzt wackelt
auch noch die Sperrstunde in der Hauptstadt. Zeigt sich hier, was in
anderen Gegenden Deutschlands erst kommt?

Berlin (dpa) - Vielleicht wird der Bürgersteig in den nächsten
Monaten ein ziemlich wichtiger Ort werden. Da kann man sich mit
Freunden oder Nachbarn austauschen, an der frischen Luft. In
Deutschland stecken sich immer mehr Menschen mit dem Coronavirus an.
In keiner anderen Region sind zuletzt so viele Neuinfektionen gezählt
worden wie im Berliner Bezirk Neukölln.

Der Amtsarzt befürchtet eine Entwicklung wie in seinem Bezirk auch
anderswo. «Was wir jetzt schon in Neukölln erleben, sind nur die
Vorboten von dem, was wir wahrscheinlich in allen Metropolen des
Landes erleben werden», sagte Nicolai Savaskan dem «Tagesspiegel».
Neukölln sei der Sensor für das ganze Land.

Die Pandemie hat einen dieses Jahr schon oft einen Blick auf die
Landkarte werfen lassen. Auf das österreichische Ischgl zum Beispiel.
Oder den Kreis Heinsberg in Nordrhein-Westfalen. Jetzt rückt der
Berliner Süden in den Fokus. Neukölln, das ist eine Mischung aus
teuren Altbauten, Einfamilienhäusern und Hochhäusern, aus
verschlafenen Ecken, Szenekiezen und sozialen Brennpunkten. Junge
Leute aus aller Welt mögen es dort. Aber für viele Nicht-Berliner ist
der Bezirk ein Schreckgespenst. Neukölln klingt für sie nach Clans
und Rütli-Schule.

Nun auch noch das Virus. Laut Robert Koch-Institut liegt Neukölln mit
rund 160 Fällen pro 100 000 Einwohner in der Woche bundesweit am
höchsten. Es ist mehr als dreimal so viel wie der kritische Wert von
50 (Stand Sonntag).

Wie fühlt es sich an, mitten in einem Corona-Hotspot? «Ich denke, wir
müssen damit einfach umgehen», sagte eine Frau. Klar sei das ein
unangenehmes Gefühl, aber Angst habe sie nicht. Sie steht vor einer
Bar im Weserkiez und will gerade mit dem Fahrrad los. Die Kneipe
hinter ihr schließt - seit einer Woche gilt eine Sperrstunde in
Berlin. Doch die wackelt nun.

Bundesweit haben Gerichte zuletzt Regelungen auseinander genommen -
etwa das Beherbergungsverbot. In Berlin sind elf Gastronomen mit
Eilanträgen gegen die Sperrstunde vorgegangen. Nach einem Beschluss
des Verwaltungsgerichts dürfen sie nun auch nach 23.00 Uhr noch Gäste
bewirten, aber weiterhin keinen Alkohol mehr ausschenken.

Eine Kneipe davon ist die «Bar am Ufer» in Neukölln. Die Betreiber

argumentieren, bei einer Sperrstunde sei davon auszugehen, dass sich
junge Menschen dann an anderen Orten treffen, für die keine
Hygienekonzepte gelten. «Damit haben wir nichts gewonnen, außer den
kompletten Kollaps einer ganzen Branche bei trotzdem steigenden
Infektionszahlen», teilen sie mit.

Auch das Gericht befand, die Sperrstunde sei für eine nennenswerte
Bekämpfung des Infektionsgeschehens nicht erforderlich. Es bezog sich
auf das Robert Koch-Institut. Beobachtet worden seien Fallhäufungen
bei Feiern im Familien- und Freundeskreis, in Einrichtungen wie etwa
Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäusern, bei religiösen
Veranstaltungen und auf Reisen. Die Landesregierung legte Beschwerde
ein. Der juristische Streit geht weiter.

Der Hotel- und Gaststättenverband hatte erwartet, dass nach dem
Beschluss auch andere Kneipen länger öffnen. Auf der Neuköllner
Weserstraße aber machen viele gegen 23.00 Uhr dicht. Die Polizei
fährt vorbei und führt mit manchen «klärende Gespräche». Die
Sperrstunde sei natürlich scheiße, sagt eine Barbetreiberin. Manche
Bars fürchten, nicht über den Winter zu kommen.

Wo kommen die Neuinfektionen also her? Die Gesundheitsämter sehen in
Berlin ein immer diffuseres Bild. Etwas über zehn Prozent der Fälle
seien Ausbrüchen zuzuordnen, bei rund 90 Prozent sei die Quelle nicht
eindeutig festzustellen, sagt Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci. Es
gebe eine sehr breite Streuung.

Die SPD-Politikerin sagt zudem, die Amtsärzte bemerkten eine
nachlassende Kooperationsbereitschaft von Infizierten. Insbesondere
nach Ausbrüchen bei großen Hochzeitsfeiern sei beobachtet worden,
dass manche Menschen Angaben über ihre engen Kontakte verweigerten.
Das sei «ein echtes Problem», sagt Kalayci.

Als «plötzliche Amnesie» bezeichnet das Neuköllns Gesundheitsstadtr
at
Falko Liecke (CDU). Verschiedene Motive seien denkbar, womöglich
gehöre eine Angst vor Bußgeld dazu. Wer nicht getestet wird und nicht
in Quarantäne kommt, weil die Ämter nichts vom Risikokontakt wissen,
kann das Virus weiterverbreiten.

Neukölln ist eigentlich eine Stadt in der Stadt. Rund 330 000
Einwohner hat der Bezirk, ähnlich wie Bonn. Auf dem Hermannplatz
verkauft einer der Marktstände Handyhüllen und Stoffmasken. Ob er
Angst habe wegen der Infektionszahlen? Der Verkäufer winkt ab.
«Wenn's passiert, passiert. Was willst du machen?» Vor einem Aufzug
stehen mehrere Leute, um in den U-Bahnhof zu fahren. Einer trägt
seine Maske unter dem Kinn, einer gar keine. Es sind Bilder, die man
auch aus anderen Gegenden kennt.

Mit einer neuen Kampagne wollten die Berliner Tourismusagentur und
die Senatswirtschaftsverwaltung dafür werben, die Regeln einzuhalten.
Das gab ziemlichen Wirbel. Die Zeitungsanzeige zeigte eine Seniorin
mit Mund-Nasen-Schutz, die anderen den Mittelfinger zeigt. Der Text
dazu: «Der erhobene Zeigefinger für alle ohne Maske.» Regierungschef

Michael Müller (SPD) bezeichnete das als peinlich, selbst der
US-Sender CNN und der britische «Guardian» berichteten.

Dabei spricht die Kampagne mit dem absichtlich verwirrenden Text
eines an: Wer hält sich an die Regeln? Und wie bekommt man mehr
Menschen dazu, sie einzuhalten? Berliner Politiker sind zuletzt oft
gefragt worden, ob es denn wirklich neue Regeln brauche, wenn nicht
einmal die alten durchgesetzt würden. Die Antwort: Man könne nicht
vor jede Wohnungstür und neben jeden Feiernden einen Polizisten
stellen.

Neuköllns Gesundheitsstadtrat Liecke spricht von einem «absoluten
Krisenmodus». Mehr und mehr Personal werde für die
Pandemie-Bekämpfung herangezogen. Er sagt auch: «Daran, dass wir das

wieder einfangen können wie Mitte des Jahres, glaube ich nicht mehr.»
Es müsse nun vor allem um den Schutz von Risikogruppen gehen. Die
Zahl der Krankenhausaufnahmen bei Menschen mit Covid-19 steigt
bereits in Berlin, auf Normal- und Intensivstationen.

Amtsarzt Savaskan sagt im Zeitungsinterview noch etwas: Die Menschen
seien hinsichtlich der Regeln hochgradig verunsichert. Die
Verordnungen, die komplizierten Quarantänebestimmungen. Manches ist
auch für Muttersprachler mit Abitur kaum mehr zu überblicken. Da
kommt es zur unpassendsten Zeit, dass der Bezirk sich auch noch einer
«neuen Dimension» von Desinformation konfrontiert sieht: Flugblätte
rn
in den Briefkästen der Leute. Liecke warnte vor Irreführung. Auf den
Zetteln würden Verschwörungsideologien bedient.