Gerichte zerpflücken staatliche Maßnahmen gegen Corona-Pandemie

Erst das Beherbergungsverbot, nun die Sperrstunde: Die Maßnahmen von
Bund und Ländern zum Eindämmen der Corona-Pandemie finden vor Gericht
wenig Zustimmung. Die Zahl der Neuinfektionen steigt derweil stetig
weiter.

Berlin (dpa) - Bund und Länder werden bei ihren Schritten zum
Eindämmen der Corona-Pandemie zunehmend von Gerichten ausgebremst.
Nach den Urteilen gegen die Beherbergungsverbote in Baden-Württemberg
und Niedersachsen hat am Freitag das Berliner Verwaltungsgericht die
Sperrstunde in der Hauptstadt gekippt. Es gab den Eilanträgen von
Gastronomen statt. Auch das Beherbergungsverbot für Urlauber aus
Regionen mit hohen Infektionszahlen wird immer löchriger. Bayern
lässt es an diesem Freitag auslaufen, wie Staatskanzleichef Florian
Herrmann (CSU) der Deutschen Presse-Agentur in München sagte. Hessen
plant ebenfalls die Abschaffung. (VG 14 L 422/20 und VG 14 L 424/20)

Ungeachtet des Urteils in Berlin beschloss die Landesregierung in
Nordrhein-Westfalen, dass künftig in Kommunen mit 50 oder mehr
Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen eine
Sperrstunde von 23.00 Uhr bis 6.00 Uhr morgens verhängt werden muss.
Dies entspricht der erst am vergangenen Wochenende in Berlin in Kraft
getretenen Regelung, die nun schon wieder obsolet ist.

Es sei nicht ersichtlich, dass die Sperrstunde für eine nennenswerte
Bekämpfung des Infektionsgeschehens erforderlich sei, begründete das
Berliner Gericht seinen Beschluss, gegen den die Landesregierung
juristisch vorgeht, am Freitagabend aber zunächst scheiterte. Das
teilte eine Sprecherin des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg
am Freitag mit. Der Senat hatte eine sogenannte Zwischenverfügung
beantragt. Die Entscheidung in der Hauptsache steht noch aus.

Sperrstunden sind ein zentraler Baustein im Konzept von Bund und
Ländern, um die auch in Deutschland stark steigenden Neuinfektionen
in den Griff zu bekommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die
Ministerpräsidenten der Länder hatten am Mittwoch vereinbart, dass ab
einem Wert von 50 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner innerhalb von
sieben Tagen eine Sperrstunde um 23.00 Uhr für Gastronomiebetriebe
zwingend zu erlassen ist. Ab einem Wert von 35 Neuinfektionen wird
eine Sperrstunde empfohlen.

Die Gesundheitsämter in Deutschland meldeten nach Angaben des Robert
Koch-Instituts (RKI) vom Freitagmorgen 7334 neue Corona-Infektionen
innerhalb eines Tages - der höchste Wert seit Beginn der Pandemie. Am
Vortag waren es 6638 neue Fälle gewesen. Die jetzigen Werte sind nur
bedingt mit denen des Frühjahrs vergleichbar, weil heute wesentlich
mehr getestet wird - und damit auch mehr Infektionen entdeckt werden.

Bei den intensivmedizinisch behandelten Covid-19-Patienten zeichnet
sich ein deutlicher Anstieg ab. Laut RKI wurden am Donnerstag 655
Corona-Infizierte intensivmedizinisch behandelt, 329 davon beatmet.
Eine Woche zuvor hatte der Wert noch bei 487 (239 beatmet) gelegen.

Das RKI verzeichnet auch wieder vermehrt Corona-Ausbrüche in Alten-
und Pflegeheimen. «Da sich wieder vermehrt ältere Menschen anstecken,
nimmt die Anzahl der schweren Fälle und Todesfälle zu», schreibt das

Institut in seinem aktuellen Lagebericht. Im Frühjahr hatte es
mehrere große Corona-Ausbrüche in Altenheimen gegeben.

Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) sagte im RTL/ntv-«Frühstart»
zur Infektionslage: «Wir erwarten nicht, dass die Zahlen morgen
geringer werden.» Deutschland habe es selbst in der Hand, ob es einen
zweiten Lockdown geben werde. «Das A und O ist eben jetzt Vorsicht,
sofort.» Der «Rheinischen Post» (Samstag) sagte Braun, «dass es als

weitestgehende Maßnahme auch Beschränkungen der Mobilität in die
besonders betroffenen Gebiete hinein und aus ihnen heraus geben
kann». Das hätten die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten
schon vor Monaten festgestellt.

Die Angst vor einer Ansteckung mit dem Corona-Virus hat laut einer
Umfrage zugenommen. 43 Prozent der Menschen in Deutschland haben
«sehr große» oder «eher große Angst»; im Juli waren es 40 Proze
nt
gewesen. Knapp die Hälfte der Befragten gab an, keine Angst zu haben.
Das geht aus dem aktuellen YouGov-Covid-19-Tracker hervor, der am
Freitag veröffentlicht wurde. 72 Prozent glauben zudem, dass die
Corona-Lage in Deutschland derzeit schlimmer wird.

Das Beherbergungsverbot war beim Corona-Gipfel am Mittwoch im
Kanzleramt hochumstritten gewesen. Länder wie Nordrhein-Westfalen und
Thüringen setzten es gar nicht um, andere wie Mecklenburg-Vorpommern
halten bis heute strikt daran fest. Ministerpräsidentin Manuela
Schwesig (SPD) hat nur die Bereitschaft signalisiert, die in ihrem
Land besonders strengen Regelungen etwas zu lockern. Bund und Länder
fanden keine Einigung und vertagten das Thema bis zum 8. November.

Am Donnerstag kippten dann Gerichte in Baden-Württemberg und
Niedersachsen die dortigen Verbote. Sachsen und das Saarland strichen
die Regel freiwillig. Die Rechtssprechung ist allerdings nicht
eindeutig. Das Oberverwaltungsgericht in Schleswig-Holstein wies am
Donnerstag einen Eilantrag gegen das Beherbergungsverbot ab. Am
Freitag scheiterte vor dem Verwaltungsgericht Hamburg ein Ehepaar aus
Köln. Aus Sicht des Gerichts hätte es nahe gelegen, den Antrag «zu
einem früheren Zeitpunkt bei dem Gericht anhängig zu machen».

Nach der Regelung durften Touristen aus Gegenden mit besonders hohen
Infektionszahlen nur in ein Hotel oder eine Ferienwohnung, wenn sie
einen negativen Corona-Test vorlegen konnten, der nicht älter als 48
Stunden war. In Mecklenburg-Vorpommern ist darüber hinaus eine
fünftägige Quarantäne und anschließend ein zweiter negativer
Corona-Test vorgeschrieben.

Prof. Michael Meyer-Hermann, Leiter der Abteilung System Immunologie
am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, zeigte
sich enttäuscht über die Ergebnisse der Bund-Länder-Runde. «Wir hab
en
Zeichen, dass das Virus sich gerade unkontrolliert ausbreitet», sagte
er am Donnerstagabend im ZDF-«heute-journal». Er habe deshalb am
Mittwoch im Kanzleramt eine «große Warnung» ausgesprochen. «Die
Maßnahmen, die erfolgt sind, sind nicht die, die ich mir erhofft
hatte», bedauerte Meyer-Hermann. «Die Bevölkerung muss einfach
verstehen, dass es jetzt um die Wurst geht.» Die Menschen müssten
Feste viel stärker einschränken, auf Reisen möglichst verzichten und

konsequent Maske tragen.

Laut einer Umfrage im Auftrag des ARD-«Morgenmagazins stoßen die
unterschiedlichen Maßnahmen und Regelungen in den Bundesländern bei
den Bürgern auf wenig Akzeptanz: Gut zwei Drittel (68 Prozent)
befürworten eher einheitliche Regelungen für Deutschland. Nach einer
Forsa-Umfrage für RTL hat eine große Mehrheit der Bürger (74 Prozent)

nicht den Eindruck, dass Bundesregierung und Bundesländer bei der
Eindämmung der Corona-Pandemie gut zusammenarbeiten.

Trotz der steigenden Infektionszahlen sollen Schulen und Kitas nach
Auffassung der Kultusministerkonferenz (KMK) möglichst lange offen
bleiben. «Lüften bleibt dabei das A und O», sagte KMK-Präsidentin
Stefanie Hubig (SPD) am Freitag in Mainz nach zweitägigen Beratungen
der 16 Landesminister. «Räume, die man nicht lüften kann, können au
ch
nicht für den Unterricht genutzt werden.» Bundesfamilienministerin
Franziska Giffey (SPD) sprach sich gegen vorbeugende flächendeckende
Kita-Schließungen aus. «Kitas selbst sind keine Infektionsherde und
Kinder sind nicht die Infektionstreiber», sagte sie in Berlin. Kita-
und Schulschließungen dürften nur das allerletzte Mittel sein.

Die Zuspitzung der Infektionslage in ganz Europa überschattet auch
zunehmend die deutsche EU-Ratspräsidentschaft. Nach der Absage des
EU-China-Gipfels im September in Leipzig strich die Europäische Union
am Freitag auch ihren erst vor zwei Wochen beschlossenen und für den
16. November geplanten Gipfel zur China-Politik in Berlin.

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