Masseninfektion in Kasseler Erstaufnahme: Weiter Kritik an Land

Eine Masseninfektion in einer Erstaufnahme für Flüchtlinge hat Kassel
zum Corona-Hotspot gemacht. Ein Wohlfahrtsverband und der
Flüchtlingsrat werfen dem Land Versäumnisse vor. Unterdessen ist die
Situation in der Unterkunft angespannt.

Kassel/Frankfurt (dpa/lhe) - Nach einem Corona-Ausbruch mit 112
Infizierten in einer Kasseler Flüchtlingsunterkunft kritisiert der
Wohlfahrtsverband «Der Paritätische» das Land Hessen wegen der
Unterbringung. Trotz Corona-Pandemie müssten Flüchtlinge vielerorts
auf zu engem Raum leben, sagte Sprecherin Barbara Helfrich am
Freitag: «Wir haben keine räumliche Entzerrung beobachtet, zumindest
nicht flächendeckend.» Die Landesregierung habe die Problematik
ausgeblendet: Es werde über das Corona-Risiko privater Feiern, über
das Beherbergungsverbot aber nicht über die Flüchtlingsunterbringung
diskutiert.

Die Menschen in den Einrichtungen hätten keine Chance, sich zu
schützen. «Das Robert Koch-Institut hat Konzepte vorgelegt, die nicht
umgesetzt werden», sagte Helfrich. Das Land müsse jetzt dringend
handeln. Dass es die Wohlfahrtsverbände zu einem Treffen über dieses
Thema für Mitte November eingeladen habe, begrüße man zwar. «Aber w
ir
haben die Befürchtung, dass uns die Zeit davonläuft.»

Am Mittwoch hatte ein Corona-Ausbruch mit 112 Infizierten Kassel über
Nacht in die höchste Infektionswarnstufe des Landes Hessen gebracht.
In der nordhessischen Stadt lag am Freitag die Zahl der Infektionen
pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen bei 101,1. Kassel ist damit
eine der Regionen mit der höchsten Inzidenz in Hessen.

Nach Bekanntwerden des Ausbruchs hatten sich Ärzte, die in der
Einrichtung Flüchtlinge betreuen, an die Öffentlichkeit gewandt und
Vorwürfe gegen das zuständige Regierungspräsidium erhoben. «Weil zu

viele Menschen auf zu kleinem Raum zu eng zusammen sind, ist es zu
dieser Häufung gekommen», sagte der Allgemeinmediziner Helmuth
Greger, Organisator des Ärzteteams der Erstaufnahme. Auch für die
Trennung der Infizierten von den Nichtinfizierten reichten die
Räumlichkeiten nicht aus. Das Regierungspräsidium hatte dagegen
argumentiert, es sei ausreichend Platz vorhanden, eine Verlegung
Erkrankter sei wegen drohender neuer Infektionsketten nicht möglich.

Der hessische Flüchtlingsrat kritisierte, dass zu viele Flüchtlinge
in großen Gemeinschaftsunterkünften leben müssten. Weniger als ein
Drittel sei dezentral untergebracht. Damit liege Hessen im Vergleich
der Bundesländer weit hinten. Der Rat berief sich dabei auf Zahlen
des Statistischen Bundesamtes zum Asylbewerberleistungsgesetz.
Demnach waren Ende 2019 nur 32 Prozent, also etwa jeder dritte
Asylbewerber, dezentral untergebracht. Mehr als 56 Prozent lebte in
Gemeinschaftsunterkünften.

«Diese Zahlen sind natürlich fatal», erklärte Timmo Scherenberg,
Geschäftsführer des Hessischen Flüchtlingsrates. «Schon in normalen

Zeiten ist die vorrangige Unterbringung in Großunterkünften
integrationspolitisch eine sehr schlechte Idee, in Pandemiezeiten
schlicht eine Katastrophe.»

Das zuständige Regierungspräsidium Gießen erklärte am Freitag, dass

keine weiteren Infektionen in der Erstaufnahme mit 300 Bewohnern
eingetreten sein. «Die positiv getesteten Bewohnerinnen und Bewohner
zeigen bisher keine oder nur milde Symptome», sagte ein Sprecher.
Allerdings habe es eine Auseinandersetzung gegeben, die von der
Polizei geschlichtet werden musste. «Das Hauptproblem ist, dass viele
auch der positiv getesteten Bewohnerinnen und Bewohner die
Quarantäneverfügung nicht verstehen, da sie sich völlig gesund fühl
en
und auch symptomfrei sind.»

Da wegen der Quarantäne kein Bewohner die Einrichtung verlassen darf,
versuche man die Situation der Menschen dort zu verbessern. Dazu
gehöre der Verkauf von Dinge des täglichen Bedarfs und bessere
Internet-Versorgung. In der kommenden Woche werde das Gesundheitsamt
weitere Corona-Test vornehmen.