Prinzip Vortasten - Was im Corona-Herbst auf uns zukommen kann Von Martina Herzog und Theresa Münch, dpa

In der Pandemie scheint Deutschland an einem Punkt, der der Ruhe vor
dem Sturm gleicht. Die Infektionszahlen schnellen in die Höhe, doch
das Leben geht weiter. Merkel und Co. wollen aufrütteln.

Berlin (dpa) - Deutsche Politiker halten keine «Blut, Schweiß und
Tränen»-Reden. Doch mit ihren Appellen an Disziplin und
Durchhaltewillen in der Pandemie sind manche dieser Tage schon
ziemlich dicht dran. «Wir müssen uns dem Virus nicht irgendwie
ergeben, sondern wir können gegen dieses Virus ankämpfen», drängte

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nach dem jüngsten Treffen mit den
Länderchefs. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) machte
deutlich: «Aufgeben gilt nicht!». Jetzt sei der letzte Moment, das
Ruder noch herumzureißen. Berlins Regierender Bürgermeister Michael
Müller (SPD) beschwor die Bilder eines Massengrabs herauf, das auf
einer Insel vor Manhattan ausgehoben wurde.

REKORD AN NEUINFEKTIONEN: Wie zum Beleg drohenden Unheils - das Wort
soll Merkel in der Runde benutzt haben - meldet das Robert
Koch-Institut am Donnerstag einen Rekord an Neuinfektionen. 6638 neue
Fälle an einem Tag, das liegt sogar über dem bisherigen Höchstwert
von Ende März. Da heute deutlich mehr getestet wird als noch im
Frühjahr sind die Zahlen nicht vergleichbar.

KONTROLLVERLUST: Was die Experten mehr beunruhigt als die absoluten
Zahlen ist das rasante Tempo, mit dem sie wieder nach oben schnellen.
Söder warnte: «Man kann gar nicht so schnell gucken, wie einem die
Entwicklung aus der Hand läuft.» Noch gibt es keinen Engpass bei
Intensivbetten. Aber die Befürchtung ist, dass sich zunehmend ältere
bei den derzeit hauptsächlich infizierten jüngeren Menschen anstecken
- und es dann zu mehr schweren Verläufen und Todesfällen kommt.
Zugleich droht mit wachsenden Zahlen ein Kontrollverlust: Die
Gesundheitsämter haben dann zunehmend Schwierigkeiten, die Kontakte
von Infizierten nachzuverfolgen.

HOTSPOTS: Am schnellsten kletterten die Fallzahlen zuletzt im Westen
und Süden, im Ruhrgebiet, in Berlin, in Stuttgart - aber auch in
einzelnen ländlichen Regionen wie dem Emsland oder dem Eichsfeld in
Thüringen. Die berüchtigte Marke von wöchentlich 50 Neuinfektionen
auf 100 000 Einwohner ist schneller erreicht, als man dachte. Deshalb
will die Politik jetzt schon früher eingreifen - nämlich bereits bei
35 Neuinfektionen.

DROHEN BESCHRÄNKUNGEN WIE IM FRÜHJAHR? Bayerns Ministerpräsid
ent
Markus Söder (CSU) sieht Deutschland zumindest auf dem Weg dahin.
«Wir sind dem zweiten Lockdown eigentlich viel näher, als wir das
wahrhaben wollen», sagt er. Dass Schulen und Läden wieder schließen
müssen, ist trotzdem erstmal nicht in Sicht. Inzwischen glaubt man
etwas besser zu wissen, wo Gefahren lauern. So sieht die Politik etwa
Friseursalons offenkundig nicht mehr als großen Infektionsherd.
Solche Erfahrungen sollen mit einfließen, wenn über erneute
Beschränkungen entschieden wird.

WAS DIE POLITIK ERSTMAL PLANT: In erster Linie gehe es um die
Vermeidung von Kontakten, sagt Merkel. Die Instrumente: Maske tragen,
weniger Alkohol, kleinere Zusammenkünfte. Künftig soll mancherorts
auch draußen eine Mund-Nasen-Bedeckung getragen werden. In Hotspots
mit 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern sollen Restaurants und
Cafés um 23 Uhr schließen. Hier dürfen sich nur noch maximal zehn
Menschen miteinander treffen, im privaten Raum zusätzlich nur
Mitglieder zweier Haushalte, also etwa zwei fünfköpfige Familien.

Kontaktbeschränkungen soll es auch in Regionen mit 35 Neuinfektionen
auf 100 000 Einwohner geben. Hier gilt: Draußen 25 Menschen, im
privaten Raum 15. Allerdings entscheiden das letztlich die
Bundesländer - und nicht alle setzen die Beschlüsse gleich zügig um.


PRINZIP VORTASTEN: Ob all das reicht, ist völlig ungewiss. Die
Entscheider in Bund und Länder stochern mit ihren Maßnahmen etwas im
Nebel. Von der Infektion über erste Symptome bis hin zum Test und
einem Ergebnis vergeht Zeit. «Wir wissen, dass die Zahlen von heute
im Grunde das Geschehen von vor etwa zehn Tagen widerspiegeln», sagte
Merkel. Ob neue Maßnahmen wirken, weiß man also nicht direkt. Sollten
sie nach zehn Tagen noch nicht greifen, drohen noch härtere
Kontaktbeschränkungen. Wie weit das gehen könnte, zeigt der Blick
über die Grenzen: In den Niederlanden und in Tschechien musste die
Gastronomie schließen. In Paris dürfen die Menschen ab Samstag nachts
nicht mehr vor die Tür.

PRINZIP EIGENVERANTWORTUNG: Vor allem komme es jetzt stark auf den
Einzelnen an, betont die Politik. Vieles, was Ansteckungen befördern
könnte, bleibt erlaubt - zugleich aber werben Bund und Länder fast
schon flehentlich darum, nicht jede Freiheit zu nutzen, insbesondere
auf Reisen in und aus Risikogebieten zu verzichten.

WIE KONTROLLIERT WERDEN SOLL: Jedenfalls stärker als bisher. Wenn d
ie
Ordnungsämter alleine nicht nachkommen, soll die Bundespolizei
einspringen. «Eine Gemeinschaft - auch ein Staat - darf kein
zahnloser Tiger sein», betonte Söder. «Wenn sich einige nicht daran
halten, muss er auch zeigen, dass es ihm ernst ist.» Klar ist aber
auch: Man wird nicht überall kontrollieren können, kaum eine Streife
wird Privatleute fragen, wer bei ihnen gerade im Wohnzimmer sitzt.

WAS MAN MIT ALLER MACHT VERMEIDEN WILL: «Kita und Schule sind
für uns
ganz wichtig», sagt Merkel. Eine neue flächendeckende Schließung soll

unbedingt verhindert werden. Das gleiche gilt für Läden, Fabriken und
Gastronomie. Mittelständler warnten zuletzt, ein zweiter Lockdown
könne für sie der Todesstoß sein. Ebenfalls unbedingt vermeiden will

man, dass Alten- und Pflegeheime sowie Krankenhäuser wieder für
Angehörige schließen. Der Bund will deshalb Schnelltests nicht nur
für Bewohner und Beschäftigte bezahlen, sondern auch für Besucher.

HERBSTURLAUB: In einigen Ländern müssen Reisende aus Risikogebieten
in Hotels negative Corona-Tests vorweisen, in anderen nicht. Das wird
auch so bleiben, bis die Herbstferien in allen Bundesländern vorbei
sind. Über das Beherbergungsverbot streiten die Länder nämlich
heftig: Vor allem Urlaubsländer wie Mecklenburg-Vorpommern,
Schleswig-Holstein und Bayern sind für strenge Regeln, andere mit
vielen Corona-Hotspots wie Berlin und Nordrhein-Westfalen dagegen.
Sachsen hob seine Beschränkungen am Donnerstag auf, in
Baden-Württemberg und Niedersachsen griffen Gerichte ein.

AUSSICHTEN AUF WEIHNACHTEN: Kann man bei steigenden Infektionszahlen
zu Weihnachten überhaupt noch die Familie besuchen? Viele fürchten
Kontaktsperren gerade in dieser besonders emotionalen Zeit. Den
Politikern ist das bewusst - sie wollen Einschränkungen aber nicht
ausschließen. Theoretisch könnte es sogar eine Ausreisesperre für
Bewohner von Risikogebieten geben - auch wenn das bisher niemand
will. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) betonte neulich: «Es
kann gelingen, dass wir Weihnachten ohne Lockdown erleben können.» Es
schwingt mit: Dafür müssen wir uns allerdings anstrengen.