Spahn appelliert an Wachsamkeit - Corona-Anstieg besorgniserregend

Der Kampf gegen die Pandemie wird wieder schwieriger. Für den Herbst
und Winter appellieren Regierung und Experten an alle Bundesbürger,
gemeinsam aufzupassen. Denn sicher ist die weitere Entwicklung nicht.

Berlin (dpa) - Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat angesichts
stark steigender Corona-Infektionszahlen zu Wachsamkeit und raschem
Gegensteuern vor Ort aufgerufen, um die Lage im Griff zu behalten.
Der jüngste Anstieg auf mehr als 4000 Neuinfektionen binnen eines
Tages sei besorgniserregend, sagte der CDU-Politiker am Donnerstag in
Berlin. Es gelte zu verhindern, dass es mit schnelleren Zuwächsen zu
einem Moment komme, «wo wir die Kontrolle verlieren». Spahn betonte:
«Da sind wir noch nicht.» Es komme nun auf die Balance aus Zuversicht
und Achtsamkeit an. Dies betreffe auch alle Bürger - beim Einhalten
von Schutzregeln wie Abstand und Masken sowie Vorsicht bei Feiern.

«Es liegt an uns allen, ob wir es schaffen», sagte Spahn. «Wenn
80 Millionen mitmachen, sinken die Chancen des Virus gewaltig.» Diese
Pandemie sei auch «ein Charaktertest für uns als Gesellschaft», der
nur gemeinsam zu bestehen sei. In der kalten Jahreszeit komme es
ergänzend aufs Lüften und ein breites Nutzen der Corona-Warn-App an.
Es gebe inzwischen mehr Wissen und Instrumente für den Kampf gegen
das Virus. Die Zahl der Todesfälle und Intensivpatienten in den
Kliniken sei momentan nach wie vor vergleichsweise niedrig.

Auch der Präsident des bundeseigenen Robert Koch-Instituts (RKI),
Lothar Wieler, betonte: «Die aktuelle Situation beunruhigt mich
sehr.» Man könne nicht wissen, wie sich die Lage in Deutschland in
den nächsten Wochen entwickeln werde. «Es ist möglich, dass wir mehr

als 10 000 neue Fälle pro Tag sehen. Es ist möglich, dass sich das
Virus unkontrolliert verbreitet.» Er hoffe aber, dass sich ein Niveau
halten lasse, mit dem man umgehen könne. Ziel sei es, so wenige
Infektionen wie möglich zuzulassen. Dann werde das Gesundheitssystem
nicht überlastet, und nur dann verhindere man viele schwere Verläufe.

Wie das RKI am Donnerstag mitteilte, meldeten die Gesundheitsämter
4058 neue Corona-Infektionen in den vorangegangenen 24 Stunden. Das
sind mehr als 1200 mehr als am Mittwoch. Dort war mit 2828
Neuinfektionen ein neuer Höchstwert seit April gemeldet worden. Höher
als nun war der Stand zuletzt in der ersten Aprilhälfte. Spahn
erläuterte, derzeit steckten sich vor allem jüngere Menschen an -
aber nicht nur. Gerade die Jüngeren hielten sich oft für
unverletzlich. «Das sind sie aber nicht.» Covid-19 sei weiterhin eine
ernsthafte Erkrankung.

Spahn äußerte Verständnis für Corona-Vorgaben bei Urlaubsreisen
innerhalb Deutschlands im Herbst. Wichtig für die Akzeptanz sei aber
ein möglichst einheitlicher Rahmen der Länder. Entscheidend sei eine
rasche Eindämmung von Ausbrüchen in betroffenen Kommunen. Dies sei
«die viel bessere Variante» als Beherbergungsverbote in der Folge.
Die Länder hatten am Mittwoch mehrheitlich beschlossen, dass Reisende
aus Gebieten mit sehr hohen Infektionszahlen nur dann beherbergt
werden dürfen, wenn sie einen höchstens 48 Stunden alten negativen
Corona-Test haben. Greifen soll dies für Reisende aus Gebieten mit
mehr als 50 Neuinfektionen je 100 000 Einwohnern binnen sieben Tagen.

Spahn wandte sich dagegen, von einem möglichen «zweiten Lockdown» zu

reden. Dies suggeriere, man wäre wieder in einer Lage von März/April.
Es gebe inzwischen aber Erfahrungen, wie mit Schutzvorkehrungen in
vielen Bereichen ein normaler Betrieb gelinge. Es gebe keine
Ausbrüche beim Einkaufen, bei Friseuren und kaum welche im
Nahverkehr. Auch in Schulen seien die Dinge insgesamt gut im Griff.
Kritisch seien etwa Feiern und Veranstaltungen. Es sei richtig, wenn
Städte wie nun Berlin mit Alkohol-Beschränkungen gegensteuern. Nötig

seien aber auch Kontrollen und dass Bußgelder verhängt werden.

«Wir haben es gemeinsam in der Hand», sagte Spahn. Veranstalter wie
Eingeladene sollten sich fragen, ob eine große Hochzeitsfeier «mitten
in dieser Jahrhundertpandemie» sein müsse. Gottesdienste könne man
mit Abstand machen oder eng beieinander auf kleinem Raum. Spahn
zeigte sich skeptisch zu Forderungen nach Ampel-Darstellungen zum
Infektionsgeschehen. Dies lege nahe, dass es automatisch eine
bestimmte Reaktion gebe, Ausbruchsfälle seien aber komplexer.

Der Minister bekräftigte, dass ab Mitte Oktober auch Schnelltests
eingesetzt werden sollen, vor allem in Pflegeheimen und Kliniken.
Durch eine Bundes-Beteiligung an Verträgen seien vorerst bis zu neun
Millionen Schnelltests pro Monat für den deutschen Markt gesichert.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz forderte auch lückenlose
Kontaktdokumentationen. «Nur so ist nachvollziehbar, welcher
Pflegebedürftige oder Patient mit Personal und Besuchern wann und wo
zu tun hatte», sagte Vorstand Eugen Brysch. «Schnelltests sind
sinnvoll, wenn sie zuverlässige Ergebnisse liefern.»