Impfstoff-Zulassung: Hundert Experten, Datenberge und ein Countdown Von Sandra Trauner, dpa

Wann kommt der Corona-Impfstoff? Mehrere Pharmaunternehmen sind mit
den nötigen klinischen Studien schon recht weit, doch es gibt eine
große Hürde: die Zulassung. Wie läuft diese Prüfung ab? Was sind di
e
Kriterien? Und wer entscheidet am Ende?

Langen (dpa) - Für zwei Corona-Impfstoffkandidaten hat der
Zulassungsprozess bei der europäischen Arzneimittelbehörde EMA
bereits begonnen. Der Wirkstoff BNT162b2 des Mainzer Unternehmens
Biontech werde in einem sogenannten Rolling-Review-Verfahren geprüft,
hatte die Behörde am Dienstag bestätigt. Bei diesem Verfahren werden
Daten aus der klinischen Prüfung fortlaufend eingereicht und
bewertet. Seit Anfang des Monats prüft die EMA bereits Studiendaten
zum Wirkstoff AZD1222, den der britisch-schwedische Pharmakonzern
AstraZeneca zusammen mit der Universität Oxford entwickelt.

Die Entscheidung der EMA, das Verfahren zu beginnen, basiert nach
Angaben der Behörde auf den ermutigenden vorläufigen Daten der
präklinischen sowie der frühen klinischen Studien bei Erwachsenen.
«Das Rolling-Review-Verfahren wird solange fortgesetzt, bis genügend
Grundlagen vorhanden sind, um einen formellen Zulassungsantrag zu
unterstützen», teilte die EMA mit. Wie läuft eine solche Zulassung
ab?

Wo wird die Zulassung beantragt?

Zulassungsanträge für einen Corona-Impfstoff werden nach aktuellem
Stand bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) einzureichen
sein. Generell gibt es auch rein nationale Zulassungsverfahren und
solche der gegenseitigen Anerkennung innerhalb der EU. Bei
Corona-Impfstoffprodukten geht das für Impfstoffe zuständige
Paul-Ehrlich-Institut (PEI) im hessischen Langen aber von einem
zentralisierten Verfahren aus.

Welche Rolle spielen die deutschen Behörden?

Bei der EMA bewertet der Ausschuss für Humanarzneimittel die
Zulassungsanträge. Darin sitzt jeweils ein Experte der
Mitgliedstaaten. Zusätzlich gibt es fünf sogenannte kooptierte
Mitglieder - und einen Sitz in diesem Gremium hat das
Paul-Ehrlich-Institut «wegen seiner besonderen Expertise auf dem
Gebiet der biomedizinischen Arzneimittel», wie Cichutek sagt.

Wie wird entschieden?

Es gibt entweder einen Konsens oder eine Mehrheitsentscheidung der
Mitglieder des Ausschusses. Sie stimmen am Ende des
Bewertungsverfahrens darüber ab, ob sie eine positive oder negative
Empfehlung hinsichtlich der Arzneimittelzulassung aussprechen. Diese
Empfehlung geht an die Europäische Kommission - sie entscheidet
zuletzt, ob eine Zulassung erfolgt oder nicht. Die Kommission erteilt
im positiven Fall die Zulassung für alle EU-Mitgliedstaaten. Das wird
im Regelfall auch von den Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums
übernommen.

Wie läuft das Verfahren ab?

Die Vertreter zweier Mitgliedstaaten im Ausschuss erhalten die
Federführung in einem Verfahren. Man nennt sie Rapporteur und
Co-Rapporteur. Aufgrund seiner Expertise wird das
Paul-Ehrlich-Institut häufig für eine Rapporteurschaft oder
Co-Rapporteurschaft ausgewählt. Am Institut wird ein Projektteam
gebildet, dem etwa zehn Fachleute verschiedener Fachgebiete
angehören. Sie verfassen einen Entwurf des Bewertungsberichts und
stellen ihn dem Ausschuss vor, der dann darüber diskutiert.

Wie lange dauert das Verfahren?

Das ist genau festgelegt: 210 Tage darf die Bewertungszeit bei einer
Zulassung üblicherweise dauern. Wenn die Experten Rückfragen haben,
wird die Zeit angehalten - ein sogenannter Clockstop erfolgt. Die Uhr
läuft erst weiter, wenn der Antragsteller die Fragen schriftlich oder
mündlich beantwortet hat. Das kann auch beinhalten, dass zusätzliche
Daten geliefert werden müssen. Bei Corona-Impfstoffen kann es aber
jeweils ein beschleunigtes Bewertungsverfahren geben. Dabei kann das
Verfahren auf 150 Tage verkürzt werden.

Wie kann das Verfahren beschleunigt werden?

Für besonders dringliche Zulassungsverfahren wurde der Prozess des
Rolling Review eingeführt, der nun auch bei den beiden
Impfstoffkandidaten BNT162b2 und AZD1222 angewandt wird. Das
bedeutet, dass Teile des Antrags zu Qualität, Unbedenklichkeit und
Wirksamkeit des Arzneimittelprodukts schon vor der kompletten
Antragstellung zur Bewertung eingereicht werden können. Damit können
Fragen früher geklärt werden und die Experten können
Vorab-Bewertungen erstellen.

Was muss ein Unternehmen vorlegen?

Anträge werden in elektronischer Form eingereicht und bestehen aus
verschiedenen Modulen. Dabei geht es vor allem um die
Qualitätsanforderungen an das Produkt und seine Herstellung, um die
nichtklinischen Untersuchungen aus den Labor- und Tierversuchen und
um Daten der klinischen Prüfungen am Menschen. Ebenfalls vorzulegen
ist ein Risiko-Management-Plan «zur Vorsorge und Maßnahmenergreifung
bei unvorhergesehenen Ereignissen nach der Zulassung und
Vermarktung», wie das PEI erklärt.

Wie aufwendig ist das?

«Bewertet werden müssen mehrere Tausend Seiten von Daten», erklärt

Cichutek. Nimmt man die zugrundeliegenden Rohdaten mit dazu, deren
Vorlage im Einzelfall verlangt werden kann, sind es eher Zehntausende
Seiten. Auch der Personaleinsatz ist enorm: «Wenn Sie alle
zusammenrechnen, können EU-weit am Ende bis zu 100 Expertinnen und
Experten mit so einem Antrag befasst sein.»

Warum der Aufwand?

«Regulatorische Arzneimittelbehörden» wie das Paul-Ehrlich-Institut
verstehen sich als Vertreter der Patientinnen und Patienten bei
Therapeutika - beziehungsweise der impfwilligen Menschen bei den
Impfstoffen. «Wir kontrollieren die Pharma-Unternehmen, unterstützen
aber die Arzneimittelentwicklung, damit uns allen bessere
Arzneimittel zur Verfügung stehen», sagt Cichutek. Zugelassene
Arzneimittel müssten eine positive Nutzen-Risiko-Bilanz aufweisen.

Wieso geht es nicht noch schneller?

Schnelligkeit dürfe nicht auf Kosten der Gründlichkeit gehen, betont
Cichutek. «Statistisch aussagekräftige Daten aus der Phase III zur
Arzneimittelsicherheit und -wirksamkeit müssen vorliegen, um eine
Nutzen-Risiko-Bewertung vornehmen zu können.» In der dritten
Prüfphase wird an mehreren Tausend, oft Zehntausenden Probanden
getestet, ob der Impfstoff wirksam und verträglich ist. Abkürzungen
wie etwa in Russland werde es bei einer Zulassung in der EU nicht
geben, verspricht das Paul-Ehrlich-Institut. Russland hatte mit
ersten Impfungen gegen Corona in der Bevölkerung schon begonnen, als
die entscheidende Phase-III-Studie für das Präparat «Sputnik V» noc
h
nicht angefangen hatte.

Wie geht es nach der Zulassung weiter?

Zuerst muss der Impfstoff natürlich produziert werden. Aktuell gehen
Pharmahersteller bereits während der Phase-III-Prüfungen, also vor
der Zulassung, in Vorleistung. Sie produzieren auf eigenes Risiko,
damit sie ihre Produkte schnell verfügbar machen können, wenn das
«Go» kommt. Dennoch werden nach erfolgter Zulassung nicht sofort
Impfstoffe für alle verfügbar sein.

Wer wird zuerst geimpft?

«Die Zulassung eines Impfstoffs heißt noch nicht, dass dieser sofort
für die gesamte Bevölkerung zur Verfügung stehen wird», betont das

Robert Koch-Institut (RKI). Die Frankfurter Virologin Sandra Ciesek
findet es «ganz wichtig, dass man jetzt genaue Kriterien festlegt,
damit die Dosen möglichst sinnvoll verteilt werden». Dafür ist die
beim RKI angesiedelte Ständige Impfkommission (STIKO) zuständig. Sie
muss entscheiden, wer zuerst geimpft werden soll.

Ist eine STIKO-Impfempfehlung Voraussetzung dafür, dass mit dem
Impfen begonnen werden kann?

Nein. Sobald ein Impfstoff von EMA oder PEI zugelassen sei, könne er
in Deutschland verwendet werden, heißt es vom Robert Koch-Institut.
Eine STIKO-Empfehlung bedeute im Regelfall - nach Entscheid des
Gemeinsamen Bundesausschusses - aber eine Kostenübernahme durch die
gesetzlichen Krankenkassen. Zudem werde das Auftreten von Impfschäden
auf Bundeslandebene reguliert.

Bei Corona sei die Situation eine besondere: «Die Zulassungsbehörden
bekommen ab einem gewissen Zeitpunkt in der Entwicklungsphase eines
neuen Impfstoffs sukzessive Daten vom Entwickler übermittelt und
entscheiden dann über eine vorläufige Zulassung unter Auflagen.» Die

STIKO versuche parallel zu arbeiten und ebenfalls Daten sukzessive zu
bewerten, so das RKI. Ziel sei, zeitnah zur Zulassung auch eine
Empfehlung der STIKO zu veröffentlichen. «Sonst ist das ein langes
Verfahren, so dass zwischen der Zulassung eines Impfstoffs und der
STIKO-Empfehlung häufig eine gewisse Zeit vergehen kann.»

Ist eine Impfempfehlung bereits in Arbeit?

Ja. Eine STIKO-Arbeitsgruppe zur Corona-Impfung sei bereits seit
Mitte Mai damit beschäftigt, eine Empfehlung vorzubereiten, heißt es
vom RKI. «Viele Vorüberlegungen zur Priorisierung und zu Impfzielen
sind bereits am Laufen.» Auch mit der Erarbeitung eines
mathematischen Modells sei begonnen worden - für Berechnungen
darüber, was passiert, wenn man welche Bevölkerungsgruppe impft, um
herauszufinden, wann der Effekt am größten ist.

Wird es eine generelle Impfempfehlung geben oder eher eine pro
zugelassenem Impfstoff?

Das kann man aktuell noch nicht sagen. Zu Anfang müsse mit
limitierten Mengen an Impfstoffdosen gerechnet werden und eine
Priorisierung von bevorzugt zu impfenden Personengruppen sei
festzulegen, heißt es vom RKI. «Es kann nicht ausgeschlossen werden,
dass in den kommenden Monaten Impfstoffe zugelassenen werden, die zum
Beispiel bei alten Menschen unterschiedlich gut wirken und
unterschiedlich gut auch die Virus-Übertragung verhindern.» Wenn es
mehrere Impfstoffe mit unterschiedlichem Profil gebe, seien
impfstoffspezifische Empfehlungen denkbar.

Wann erwartet das PEI erste Zulassungen?

Nach positiver Bewertung und Empfehlung an die Europäische Kommission
könnten erste Zulassungen «voraussichtlich im nächsten Jahr»
gelingen, sagt PEI-Chef Klaus Cichutek. Experten hoffen, dass es
schon Anfang des Jahres soweit ist. Die Pandemie wäre damit aber
keinesfalls auf einen Schlag gebannt: Zum einen ist noch völlig
unklar, wie gut die Impfstoffe tatsächlich vor einer Infektion oder
zumindest vor schweren Verläufen schützen. Zum anderen wird es auch
bei einem sehr wirksamen Impfstoff viele Monate dauern, so viele
Wirkstoffdosen bereitzustellen und zu verimpfen, dass die Ausbreitung
des Virus eingedämmt wird.

Welche Impfstoffe sind im Rennen?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat bisher rund 200
Impfstoffprojekte weltweit erfasst. Phase-III-Studien gibt es demnach
zu etwa einem Dutzend Impfstoff-Kandidaten. In Deutschland sind laut
PEI vier sogenannte RNA-Impfstoffe und zwei Vektorimpfstoffe in
verschiedenen Phasen der klinischen Prüfung. «Alle
Impfstoffkandidaten basieren auf dem Grundprinzip, unserem
Immunsystem Teile (Antigene) des Sars-CoV-2 zu präsentieren, so dass
eine Immunität gegenüber dem Erreger aufgebaut werden kann», erklär
t
das Robert Koch-Institut. Es gibt drei Hauptentwicklungslinien:
Lebendimpfstoffe mit Vektorviren, Totimpfstoffe mit Virusproteinen
und mRNA/DNA-Impfstoffe.